Ein Überblick über Öcalans Denken – Buchrezension

Peter Schaber: Die Überwindung der kapitalistischen Moderne. Eine Einführung in die politische Philosophie Abdullah Öcalans. Münster: Unrast 2020.

Endlich hat sich jemand daran gewagt. Seit Oktober 2020 liegt ein erster Überblick über die politische Philosophie Abdullah Öcalans vor. Auf knapp 120 Seiten liefert Peter Schaber, Mitherausgeber des Lower Class Magazine, eine Zusammenfassung der Theorie der kurdischen Freiheitsbewegung. Es ist ein Überblick, ohne sie „zu kritisieren oder zu bewerten“ (S. 9). Theorie der Bewegung und Gedanken Öcalans? Das ist quasi deckungsgleich, obwohl der Vordenker seit mehr als 20 Jahren isoliert auf einer Gefängnisinsel im Marmarameer sitzt. Dort hat er unter anderem sein fünfbändiges Opus Magnum „Manifest der demokratischen Zivilisation“ geschrieben (Rezensionen dazu siehe hier, hier und hier). Seine Bücher stellen die theoretische Richtschnur der kurdischen Bewegung dar, die seit mehr als 40 Jahren für Gleichberechtigung, Demokratie und Sozialismus im Nahen Osten kämpft und Menschen überall auf der Welt inspiriert. Deshalb erfordert es Mut, eine Einführung zu schreiben, die von vielen kritisch beäugt werden wird.

Die YPJ feiern den Sieg über den IS in Rakka.

Das besondere an Öcalans Denken ist, dass es nicht nur auf dem Papier steht, sondern zu einer Kraft geworden ist, die hunderttausende Menschen mitreißt und Handeln lässt. So auch Schaber selbst, der 2017 für fast ein Jahr nach Kurdistan gegangen ist, dort im Shengal-Gebirge politische Arbeit gemacht, im Kollektiv der Internationalistischen Kommune Rojavas gelebt und an der Befreiung Rakkas teilgenommen hat. Als die letzten IS-Kämpfer endlich aus der Stadt vertrieben wurden, hissten Kämpferinnen der Frauenverteidigungseinheiten YPJ am 19. Oktober 2017 ein überlebensgroßes Porträt Öcalans am Naim-Platz, wo wenige Wochen zuvor noch der IS-Terror wütete. Ein besseres Beispiel für die zur materiellen Gewalt gewordene Theorie gibt es nicht. Genau aus diesem Grund muss auch in Deutschland eine Linke, „die sich verloren hat und sich auf der Höhe der Zeit wiederfinden will“ (S. 10), darüber diskutieren. Denn keine der antikapitalistischen und antikolonialen Kräfte des 20. Jahrhunderts hat langfristig gesiegt. Öcalan versucht sich an einer Erklärung der Ursachen, und er wirft zugleich einen Blick in die Zukunft.

Analysen über die Ursachen und den Zustand der Gesellschaft gibt es zwar viele, Öcalan schafft es laut Schaber jedoch „die wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnisse in eine ‚große Erzählung‘, einen sinnstiftenden Gesamtzusammenhang einzuweben. Nicht das einfache Feststellen und Aneinanderreihen von Ereignissen bedeutet etwa ein Begreifen der Geschichte (…). Vielmehr liegt im Begreifen der inneren Ordnung des Geschehenen, das zugleich Orientierung für das politische Handeln in der Gegenwart gibt, die eigentliche Erkenntnis.“ (S. 23) Aus dem Erbe mythologischer Geschichten, der Religionen und heutzutage der Wissenschaft und Philosophie, strickt Öcalan ein sinnstiftendes Ganzes, das für Schaber logisch und stringent ist.

Die Einführung ist in sechs Kapitel gegliedert, die jeweils zentrale Punkte des Öcalanschen Denkens hervorhebt. Im ersten Kapitel geht es um die Art und Weise seiner Analyse „[j]enseits von Mythologie, Religion und Szientismus“ (S. 13). Kapitel zwei und drei beschäftigen sich mit Öcalans Untersuchung der Menschheitsgeschichte, des Staates und des Patriarchats. Kapitel vier behandelt das Zukünftige, das Sozialismusverständnis der kurdischen Bewegung. Und Kapitel fünf die Art und Weise der Organisierung, um den Fortschritt erkämpfen zu können. Erst im letzten Kapitel geht es darum, was das alles denn mit Kurdistan zu tun hat. Weil er sich an einer allgemeingültigen Gesellschaftsanalyse versucht, fällt auch in Öcalans Werken der Begriff „Kurdistan“ eher selten. Abgeschlossen wird das Buch durch eine kurze Autobiographie, die Öcalan selbst kurz vor seiner Verhaftung 1999 geschrieben hatte. Die fehlenden 21 Jahre bis heute werden von Reimar Heider von der Internationalen Initiative Freiheit für Öcalan – Frieden in Kurdistan ergänzt.

Auf einen zentralen Aspekt der Kritik Öcalans an bisherigen Revolutionsbewegungen soll hier kurz eingegangen werden. Es geht um die Frage der Schaffung eines neuen Menschen. Dieser Topos ist ein wichtiges Motiv der politischen Arbeit der kurdischen Bewegung. Wie kann ein neuer Mensch entstehen? Das Problem sei bisher gewesen, „die Veränderung in der Mentalität der Proletarier nicht als Voraussetzung, sondern als fast automatische Konsequenz des Sieges über die frühere herrschende Klasse gesehen zu haben“ (S. 19), schreibt Schaber in Bezug auf Öcalan. Dieser Gedanke sei jedoch falsch. Nach dem Sturm auf das Winterpalais in St. Petersburg 1917 erwachte die Gesellschaft am nächsten Tag mit der selben Mentalität wie am Tag zuvor. „Die Zurichtungen der Menschen durch die patriarchalen, staatlichen Klassengesellschaften verschwinden nicht einfach durch die Übernahme der Staatsmacht – im Gegenteil.“ (S. 75) „Öcalan ist nicht der Auffassung, dass wir zunächst eine sozialistische Bewegung aufbauen, die dann die Macht im Staat übernimmt, und dann erst beginnt, den ‚neuen Menschen‘ zu erschaffen. Umgekehrt meint er, wenn wir es nicht schaffen, im Prozess des Aufbaus einer demokratischen Gesellschaft von unten die Einstellungen, Sozialisierung, Wertemaßstäbe und Prinzipien ihrer Protagonisten zu ändern, kann es keinen Sozialis­mus geben.“ (S. 88) Deshalb müsse sich laut Öcalan die Revolution vor allem auf die geistige Sphäre konzentrieren. Ein neuer Mensch müsse im Verlauf des Kampfes entstehen und nicht als ein Endprodukt davon.

Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, wie beeindruckend es ist, langjährige Kader und AktivistInnen der kurdischen Bewegung zu treffen und mit ihnen zu interagieren. Man steht vor Personen, die Solidarität, Gemeinschaft und Mitgefühl in allen Lebenslagen verkörpern. Ihre Ausstrahlung ist eine ganz andere und es wird deutlich, dass hier wirklich ein neuer Mensch entsteht. Nur: inwiefern es gegebene Strukturen – zum Beispiel der Konkurrenz und Ausbeutung – zulassen, dass eine solche geistige Transformation von einer Mehrheit der Bevölkerung vor einer gesellschaftlichen Veränderung durchgemacht werden kann, ist fraglich. Denn nicht jeder kann sich als Kader komplett aus den bestehenden Fügungen herausziehen, in die Berge gehen und dort kämpfen. Die gesellschaftlichen Strukturen prägen uns alle. In Rojava ist man sich dieses Problems bewusst und es wird deshalb versucht in eigenen Bildungsakademien den Menschen, die keine full time-AktivistInnen sein können, Praktiken der Solidarität zu vermitteln. Zum Beispiel lernen Frauen sich zu behaupten und dominanten Männern zu widersetzen. Und Männer lernen den Patriarchen in sich selbst zu überwinden. Dass eine solche Veränderung jahrtausendealter Gewohnheiten nicht von heute auf morgen zu haben ist, liegt auf der Hand. Wichtig ist, dass es ein Bewusstsein für dieses Problem gibt, es angegangen und nicht auf den Tag nach der Revolution verschoben wird.

Auch in den sozialen Kämpfen in Deutschland gibt es Ansätze einer solchen geistigen Veränderung in Bewegung, zum Beispiel bei den BesetzerInnen des Hambacher Forsts (2018) und Dannenröder Walds (2020), die ihren Lebensmittelpunkt auf die Rettung der Bäume (und damit des Klimas) gelegt haben, buchstäblich im Wald leben und sich dort Polizei und Rodungstrupps widersetzen. Dabei praktizieren sie im Zusammenleben ebenfalls Werte der Solidarität, die im Alltag der kapitalistischen Moderne oftmals wenig zählen. Diese Erfahrungen kann ihnen niemand nehmen, auch wenn sie irgendwann von den behelmten Schlägertrupps des Kapitals vertrieben werden.

Auf einen letzten Aspekt der Einführung Schabers soll hier nur verwiesen werden: das sechste Kapitel „Die Erneuerung der Kaderpartei“ sollte gut gelesen, weil daran anschließend auch über mögliche Organisationsformen für die revolutionäre politische Linke in Deutschland nachgedacht werden kann. Eine Diskussion, die auf die Tagesordnung muss.

Die vorliegende Darlegung des politischen Denkens Öcalans ersetzt natürlich das Lesen der Originalquellen nicht. Jedoch kann sie Lesekreisen oder EinzelkämpferInnen dazu dienen, Dinge nachzuschauen, die man in der Masse der Seiten des „Manifests der demokratischen Zivilisation“ oder anderer seiner Bücher übersieht oder wieder vergessen hat. Deshalb: holt euch diese Einführung!