04:00 Uhr morgens. Der Wecker klingelt und es geht los. Ich rolle die auf dem Boden ausgebreitete Decke zusammen und verstaue sie im Schrank neben technischem Gerät, das zur TV-Produktion dient. In Medien, die der kurdischen Freiheitsbewegung nahe stehen, ist es üblich, auch direkt in den Räumlichkeiten der Sender und Redaktionen zu leben. Heute geht es in das Kandil-Gebirge, dem berühmt berüchtigten Zentrum der Arbeiterpartei Kurdistans PKK, die sich dort seit ungefähr 15 Jahren befindet. Seit einiger Zeit wird auch dort eine für alle Menschen öffentliche Newroz-Feier abgehalten. Zusammen mit Heval Kazim und dem Kurdsat-Journalisten Necmettin Salaz machen wir uns auf den Weg. Kazim ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Er ist Gründungsmitglied der PKK und war schon vor dem ersten Parteikongress am 27. November 1978 in der Gruppe um Abdullah Öcalan dabei. Als ich ihn am Abend zuvor fragte, woher aus Kurdistan er denn komme, lächelt er nur und meint: „Ich bin kein Kurde, sondern Türke. Meine Familie kommt aus Ankara“. Dies passiert mir immer wieder. Es wird deutlich, dass die PKK keine kurdisch-nationalistische Vereinigung, die sich auf Grundlage ihrer ethnischen Zugehörigkeit organisiert, ist. In ihr sind Menschen aus der ganzen Welt aktiv. In den letzten Tagen habe ich Araber, Perser und Türken getroffen, die in irgendeinem Sinne etwas mit ihr zu tun haben, vor allem auch im Medienbereich. Kazim, ein Vordenker der kurdischen Bewegung, saß nach dem Militärputsch von 1980 insgesamt 12 Jahre in verschiedensten türkischen Gefängnissen ein, wurde dort schwer gefolter. Später war er einige Jahre in Europa und arbeitet heute aus Südkurdistan. Er schreibt nun vor allem theoretische Artikel, unter anderem für die Zeitschrift Demokratik Modernite. Sein aktuellster Beitrag dreht sich dabei um den sogenannten 3. Weltkrieg, der sich laut Einschätzung der kurdischen Freiheitsbewegung derzeit im Nahen und Mittleren Osten abspielt.
Necmettin Salaz kommt aus Van. Dort war er in den Vorgängerorganisationen der Demokratischen Partei der Völker HDP politisch aktiv, bis diese jeweils immer verboten wurden. Vor sechs Jahren musste er nach Südkurdistan fliehen, sonst würde er sich bis heute noch im Gefängnis befinden. Der 1958 geborene Intellektuelle, Schriftsteller und Journalist saß nach 1980 ebenfalls jahrelang ein, unter anderem im Foltergefängnis von Diyarbakir. Seit Jahren arbeitet er nun als Journalist und Schriftsteller. Im Fernsehsender Kurdsat, der zur Patriotic Union of Kurdistan (PUK) gehört, moderiert er seit Januar 2015 die sehr erfolgreiche wöchentliche Sendung „Yurt Köprüsü“, was zu deutsch in etwa „Heimatbrücke“ bedeutet. Dort beschäftigt er sich zusammen mit verschiedenen Diskussionspartnern vor allem mit den Geschehnissen in Nordkurdistan.
Auf dem Weg nach Kandil
Die Fahrt in das von Süleymaniye etwa 200km entfernte Kandil-Gebirge dauert drei bis vier Stunden. Zum einen sind die Straßen nicht die besten, zum anderen sind sie voll. Voll von Menschen, die sich auf den gleichen Weg gemacht haben oder bereits zuvor irgendwo in der Natur halten, um mit ihrer Familie zu picknicken. Die Straßenränder sind gesäumt von Einzelhändlern, die Fahnen der PKK oder Abdullah Öcalans verkaufen. Diese beiden Bildnisse sind hier fast schon zu einem Symbol der Mainstreamkultur geworden. Doch darf man sich nicht täuschen lassen, vor wenigen Jahren wäre dies politisch noch unmöglich gewesen. Jetzt ist die PKK eine anerkannte politische Bewegung in der Region. Die Kleinhändler haben ein Gespür für unter der Oberfläche stattfindende Veränderungen der Gesellschaft und den damit verbundenen Möglichkeiten Geschäfte zu machen. Gleichzeitig wollen sie so aber auch ihre eigenen Sympathien mit der kurdischen Freiheitsbewegung zeigen, meinen zumindest die beiden Mitfahrer. Im Auto unterhalten wir uns über die geplante Doktorarbeit. Necmettin findet das Thema sehr interessant und wichtig. Er bietet mir an in Zukunft als Türöffner für PUK nahe Medien zu helfen. Unser Fahrzeug ist übrigens nicht alleine, wir werden von einem Auto begleitet, in dem sich Vertreter der linken türkischen Partei SYKP (in etwa: „Partei des sozialistischen Wiederaufbaus“) befinden. Sie müssen mittlerweile ebenfalls im Exil leben, da ihnen bei einer Einreis in die Türkei die Festnahme droht. Im gleichen Auto befindet sich zudem eine ehemalige PKK-Kämpferin aus Rojhilat (Ostkurdistan/Iran), deren Schicksal ergreifend ist. In jungen Jahren schließen sich ihr Bruder und sie der kurdischen Freiheitsbewegung an. Im einem Gefecht wird ihr Bruder getötet. Sie wird daraufhin von der PKK gebeten die Reihen der Kämpfer zu verlassen, damit ihre Familie in Zukunft womöglich nicht noch eine Todesnachricht erreicht. Zurück im zivilen Leben Südkurdistans heiratet sie. Ihr Ehemann entschließt sich jedoch einige Zeit darauf dazu, sich ebenfalls dem bewaffneten Kampf anzuschließen. Nun ist sie wieder alleine. Das sind Einzelschicksale, die in Kurdistan recht häufig vorkommen. Viele Väter, aber auch Mütter, entscheiden sich an einem bestimmten Punkt ihres Lebens dieses nun der kurdischen Befreiungsbewegung zu widmen. Für uns Europäer schwer nachzuvollziehen, für die Menschen in Kurdistan ein gewisser Alltag.
Kurz bevor wir das Kandil-Plateau erreichen, führt eine serpentinenartige Straße den letzten Berg hoch. Sie wurde noch von Saddam Hussein zur besseren Kontrolle der Region erbaut. Noch heute dient sie einer relativ schnellen Fahrt in die Berge. Der Ausblick ist atemberaubend. Necmettin meint scherzhaft: „Eigentlich hätte man hier die Herr der Ringe Triologie drehen können“. Doch schnell holt uns die Realität wieder ein. In der Mitte des geschlängelten Weges ist neben einem vollkommen zerstörten Autowrack ein Denkmal errichtet. Im August 2011 bombardierte die türkische Luftwaffe an dieser Stelle ein Fahrzeug.
Die darin befindliche Familie Hüseyin wurde komplett ausradiert. Sieben Menschen starben, darunter vier Kinder. Das Jüngste, Solin, war erst sieben Monate alt. Die türkische Armee erdreistete sich nach dem Angriff auch noch zu behaupten, es habe sich um einen Pick-Up mit PKK-Kämpfern gehandelt.
Am Ende des Weges eröffnet sich uns ein Ausblick auf ein Tal, das umringt von den Kandil-Bergen ist. Überall blitzen weiße Punkte auf. Es sind Pick-Ups kurdischer Familien, die die Newroz-Feiertage nutzen, um gemeinsam ein, zwei Tage in der Natur zu verbringen. Die PKK kontrolliert das Gebiet zwar, hat aber nichts gegen zivile Besucher auszurichten: „Schließlich sind wir hier nur zu Besuch und belegen seit Jahren das Land der Leute, die hier wohnen“ meint Heval Kazim. Insgesamt leben in der Region mehrere tausend Menschen im Einklang mit der Natur und den Guerilla-Kämpfern. Etwas weiter die Straße hinab überprüft ein Kontrollposten alle einfahrenden Fahrzeuge, auch unseres. Es besteht die Gefahr von Racheanschlägen des IS und da will man lieber Wissen, wer oder was sich in den Autos befindet. Drei Kilometer weiter gibt es kein Durchkommen mehr, tausende Autos und noch mehr Menschen blockieren den Weg zum zentralen Festplatz. Bewaffnete Guerilleros stehen als Parkeinweiser bereit und unterstützen uns dabei einen geeigneten Parkplatz zu finden. Jetzt heißt es aussteigen und zu Fuß weiter.
Am Rande eines Berges ist eine große, festlich geschmückte Bühne aufgebaut. Das Programm beginnt im Moment unserer Ankunft und ist geprägt von Reden und Musik. Verschiedene Künstler treten auf, eine Frauenguerilla-Gruppe, die einige Lieder singt, eine Singer-Songwriterin, die auf der Gitarre ihre Komposition vorträgt. Einen gesungenen Liedtext will ich euch hier nicht vorenthalten: „Egal wie lang und schwer unser Weg sein wird, wir werden bis zum Ende Widerstand leisten. Wir marschieren für unsere Freiheit, für Gleichheit, Frieden und Geschwisterlichkeit“. Die Stimmung ist ausgelassen, es wird getanzt und „Biji Serok Apo“(„Es lebe unser Anführer Abdullah Öcalan“)-Rufe schallen durchs Tal. Bis zu 20.000 Menschen sind gekommen, um gemeinsam mit „ihren“ Kämpfern das neue Jahr zu begehen. Insgesamt sind es etwas weniger als erwartet, aber angesichts der Tatsachen, dass es jederzeit einen türkischen Luftangriff geben könnte und das Wetter eher mäßig ist, ist dies doch eine beachtliche Zahl.
Einige Eltern kommen auch, in der Hoffnung ihre Kinder, die sich der Guerilla angeschlossen haben, sehen zu können. Plötzlich betritt eine Gruppe bewaffneter Kämpfer die Bühne, gefolgt von einigen älteren Herren. Bei letzteren handelt es sich um ehemalige Peshmerga-Kämpfer, die gekommen sind, um ihre Verbundenheit mit den PKK-Kämpfern auszudrücken. Sie wollen mit dem Auftritt verhindern, dass es zu weiteren innerkurdischen Kämpfen kommt, wie kürzlich in der Nähe des Shengal-Gebirges.
Presse in Kandil
Hinter der Bühne ist ein Pressezelt aufgebaut. Dort gibt es Strom, Internet und eine Plane über dem Kopf, um dem Regen zu entkommen. Anwesend sind fast nur kurdische Journalisten von PKK nahen Medien, aber es ist auch ein großer Übertragungswagen von Kurdsat vor Ort, der eine Live-Berichterstattung sicherstellt. Aus dem Ausland sind so gut wie keine Medienvertreter da.
Die Freunde vom Lower Class Magazine haben den Weg hierher gefunden, sowie ein englischer Fotograf. Außerdem ist ein italienisches Dokumentarfilmteam auf dem Platz, das hektisch hin und her laufend seine Aufnahmen macht. Die kurdischen Medienvertreter sind ebenfalls sehr aktiv. An jeder Ecke werden Interviews vor laufender Kamera gemacht, mit lauter wichtigen Personen, die ich nicht kenne. Eine Plattform 50 Meter vor der Bühne ermöglicht es Kameras und Fotografen einen guten Blick auf die Sprecher und Bands zu haben. Eine stabile Internetverbindung sichert die direkte Übertragung ins Fernsehen. Wirklich erstaunlich, was so weit oben in den Bergen alles möglich ist. In den Pressebereich kommen nur Personen mit entsprechendem Ausweis, die Einlasskontrolle ist gut organisiert. Insgesamt scheint es hier viel Erfahrung im Umgang mit Medien zu geben.
Während des Friedensprozesses zwischen Dezember 2012 und Juli 2015 haben sich Pressevertreter die (in den Bergen nicht vorhandene) Klinke in die Hand gereicht. Auch der inhaftierte Deniz Yücel hatte hier ein lesenswertes Interview mit dem KCK-Ko-Vorsitzenden Cemil Bayik, der hier nur Heval Cuma genannt wird. (Übrigens: der Begriff Heval bedeutet in etwa Genosse).
Im Nachhinein erfahre ich von Kamal Chomani, einem in der Region arbeitenden unabhängigen Journalisten, dass die KDP die Auffahrt zum Kandil-Gebirge aus den von ihr kontrollierten Gebieten verboten und die Straßen blockiert hat. Auf Facebook schreibt er: „?KDP Asayish in Qasre & Gojar don’t allow ppl & journalists to go to Qandil to participate in #Newroz party, including me. All roads blocked.? A journalist who insisted going and later filmed the blockade was attacked, but ppl saved him.“ So wird der Versuch der KDP, die sich ausbreitende Hegemonie der PKK in Südkurdistan zu behindern, auch in dieser Form ersichtlich.
Plötzlich stellt sich mir eine Guerilla-Kämpferin vor, die sich als Türkin der PKK angeschlossen hat. Sie wird Rosa genannt und kommt ursprünglich aus Izmir. In den Bergen ist sie im Presseteam der Bewegung aktiv und organisiert den Nachrichtenfluss an kurdische Medien in den Städten. Wir haben ein längeres Gespräch, da sie früher öfters auch auf dem alljährlichen linken Wissenschaftskongress in Karaburun bei Izmir teilgenommen hat. Eine interessante Begegnung.
Gegen Ende des Tages bilden sich noch einige den traditionellen Govend tanzenden Gruppen aus Besuchern und Guerillas. Zusammen mit Kollegen von Sterk TV machen wir uns müde auf den Weg zurück nach Süleymaniye. Ein langer Weg liegt vor uns, aber die Erinnerungen und Erfahrungen dieses Tages machen ihn um einiges wett.