Der andere Öcalan

Abdullah Öcalan: Zivilisation und Wahrheit. Maskierte Götter und verhüllte Könige. Manifest der demokratischen Zivilisation. Band 1. Köln: Internationale Initiative 2017

Die deutschen Medien kennen in der Regel nur einen Abdullah Öcalan – den Machtmenschen, den Terroristen.  Öcalan hat die PKK gegründet, die Arbeiterpartei Kurdistans, in Deutschland seit 1993 verboten und in vielen Staaten auf der Terrorliste. Mehr muss der Zeitungsleser hierzulande nicht wissen. Sein Buch „Zivilisation und Wahrheit“ zeigt den anderen Öcalan: einen linken Vordenker.

„Zivilisation und Wahrheit“ ist der erste Teil eines fünfbändigen Opus magnum. Von 2007 bis 2010 füllte der 68jährige 2300 A4-Seiten. Ganz ohne Laptop und Internet. Seit dem 15. Februar 1999 sitzt Öcalan Gefängnisinsel Imrali in Isolationshaft. In der Türkei gilt er als „Top-Terrorist“. Die rechtsextreme Partei der Grauen Wölfe, MHP, wünscht sich nach wie vor, dass die Todesstrafe gegen ihn angewandt wird. Ein Grund, warum sie die AKP bei der Umwandlung der Türkei in eine Präsidialdiktatur im vergangenen April tatkräftig unterstützte. Hat Staatspräsident Erdogan doch die Wiedereinführung der Kapitalstrafe versprochen.

Auch im offiziellen Europa gilt Öcalan als Terrorist und Mörder. Liest man das vorliegende „Zivilisation und Wahrheit“, erhält man das Bild eines rationalen Analytikers, eines Menschen, der wie Nelson Mandela auf Ausgleich und (Geschlechter-)Gleichberechtigung setzt. Übrigens: auch Mandela wurde vom Westen noch bis Ende der 80er Jahre als Terrorist bezeichnet, nur eben als „schwarzer“.

Öcalans „Manifest der demokratischen Zivilisation“ verdient nicht nur wegen der Entstehungsbedingungen Beachtung. Ein Beispiel: in vielen Fällen zitiert Öcalan aus dem Kopf, weil sein Zugang zu Schriften seit 2005 systematisch eingeschränkt wird (S. 8). Dankenswerterweise hat die Internationale Initiative „Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan“, die das Buch herausgegeben hat, viele der Zitate geprüft und im Anhang die genauen Wortlaute wiedergegeben.

Öcalan gelingt mit seinem Werk das, was von der Linken in Europa so vermisst wird: eine große Erzählung, eine konkrete Utopie der „globalen Demokratisierung“ (S. 32) (vgl. Metscher, 2016). Laut Öcalan befinden wir uns „in der Phase der Auflösung der kapitalistischen Moderne (…), wo für den Kampf für das Gute, Schöne, Freie und Wahre neue Aktionsformen und neue gesellschaftliche Strukturen vonnöten sind“ (S. 86). Es braucht ein „von Liebe beseeltes, leidenschaftliches Zupacken“ (ebd.).

„Ohne Geschichte lässt sich eine Gesellschaft weder verstehen, noch lässt es sich als Gesellschaft leben“ (S. 108)

Der Inhalt des Buches teilt sich in drei Kapitel auf:

  1. Methode und Wahrheitsregime
  2. Quellen der Zivilisation
  3. Urbane zivilisierte Gesellschaft

Im ersten Teil geht Öcalan dabei auf sein Wissenschaftsverständnis und die entsprechenden Methoden ein. Mit Wahrheitsregime ist „die Frage (gemeint), was Wahrheit ist und ob und wie man sie erlangen kann“ (S. 33). Dabei kritisiert Öcalan vor allem die Unterscheidung von „Objektivität“ und „Subjektivität“. Im zweiten Kapitel geht es um die Faktoren für die Entstehung von Zivilisationen. Der längste Teil dreht sich dann um die Entwicklung der Menschheit, von den Sumerern und den Zikkurat (Tempeltürme in Mesopotamien) bis zur Entwicklung des Islam.

Um nichts weniger als 5000 Jahre Menschheitsgeschichte geht es also in „Zivilisation und Wahrheit“. Wie lässt sich ein solches 300-Seiten-Buch besprechen und bewerten? Es ist unmöglich – deshalb keine Rezension, sondern Fragmente.

Das Vorwort stammt von David Graeber (Professor für Anthropologie an der London School of Economics). Für ihn sind die kurdischen Kämpfer und Aktivisten Teil einer Bewegung, „die sich zugleich in einer weit zurückreichenden traditionellen Vergangenheit verorten“ (S. 10). Und das ist der Knackpunkt des Buches: Bei der Entwicklung von Gesellschaften spielen nicht nur die letzten 300 Jahre eine Rolle (also die kapitalistische Produktionsweise), sondern die ganze Geschichte, die komplette Vergangenheit. Eine Geschichte, die sich bis heute in der ein oder anderen Form in jedem Menschen wiederspiegelt: „Wir (…) wissen, dass es kein Phänomen oder Ereignis, keine Institution, Handlung, Person oder Gesellschaft gibt, die nicht die Einflüsse von Raum und Zeit in sich trägt“ (S. 198). Diese Herangehensweise ist zu einer zentralen Methode der kurdischen Bewegung geworden: „Das, was wir heute hier analysieren, ist nicht der jetzige Moment, sondern die Geschichte. Und wir analysieren nicht den einzelnen Menschen, sondern die Klasse, die Gesellschaft.“
Graeber gibt zu bedenken, dass einige Punkte in Öcalans Analyse nicht dem aktuellen Wissensstand von Archäologie und Geschichtswissenschaft entsprechen. Für Öcalan selbst sind seine Aussagen allerdings auch nie „definitiv“ (S. 25) und endgültig, sondern Vorschläge zur Interpretation. Zur Richtigkeit der historischen Analyse kann ich als Rezensent nicht viel sagen, da ich kein Anthropologe oder Historiker bin. Aber die Erzählung im Ganzen konstruiert Sinn. Sie lässt hunderttausende Menschen weltweit bis zur Selbstaufopferung handeln und wird damit zu einer eigenen konkreten Realität (Stichwort: Thomas-Theorem). Für Öcalan sind gesellschaftliche Realitäten sowieso nur konstruierte Wahrheiten: „Gesellschaftliche Systeme präsentieren sich durch ihre Legitimationsregime als unveränderlich und sakrosant. Sie predigen systematisch, dass ihre Institutionen göttlichen Ursprungs seien und berufen sich auf göttliche Legitimation“ (S. 74/75).
Außerdem haben sich, und darauf verweist auch Graeber in seinem Vorwort (S.18-21), Epistemologien, also Wissenssysteme und ihre zentralen Annahmen, in der Vergangenheit schon oft grundlegend verändert. Warum sollte zum Beispiel Öcalans Annahme einer vorzivilisierten matriarchalen Gesellschaft in Zukunft also nicht auch von westlichen Wissenschaftlern bestätigt werden? Hinweise und Indizien in diese Richtung gibt es viele, angefangen bei Friedrich Engels „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ (vgl. Lenz & Luig, 1995).

A pro pos „zivilisiert“. Der Begriff „Zivilisation“ spielt eine hervorgehobene Rolle in dem Werk. Es geht Öcalan darum, diese zu dekonstruieren und nicht als etwas durch und durch Positives darzustellen. In den (Vor-)Worten Graebers ausgedrückt ist Zivilisation „eine Ordnung, die sich als vornehme Herrschaft, Mäßigung, Legalität und Vernunft präsentiert, deren eigentliches Wesen aber Vergewaltigung, Terror, Verrat, Zynismus und Krieg ist“ (S. 16).

Insgesamt macht das Buch die Quellen des Denkens von Abdullah Öcalans sehr deutlich: Karl Marx, Theodor Adorno, Fernand Braudel, Friedrich Nietzsche, Michel Foucault, Immanuel Wallerstein, Murray Bookchin. Sie alle unterzieht er einer solidarischen Kritik (S. 86-91), baut aber in vielen Aussagen auf sie auf.

„Wer auf vorgezeichneten Pfaden wandert, bekommt bekanntlich nur die Dörfer und Städte zu sehen, die am Weg liegen“ (S. 49)

Das Werk ist durchzogen von einer Auseinandersetzung mit dem Marxismus und bisherigen staatssozialistischen Versuchen. Die Sowjetunion habe sich, so Öcalan, auf einen Systemkampf eingelassen und dabei doch nur die alten Rezepte des Kapitalismus verwendet – Nationalstaat und Industrialismus, ohne Rücksicht auf die Natur und ohne die jahrtausendealten Denkstrukturen der Menschen verändern zu wollen: „Einer der größten Fehler der marxistischen Methode war, ohne zunächst die Revolution in der geistigen Sphäre zu konzentrieren, den gesellschaftlichen Aufbau von den Proletariern zu erwarten, die tagtäglicher Repression und Ausbeutung ausgesetzt waren“ (S. 53). Für Öcalan gehört es zur täglichen Praxis im kapitalistischen Hier und Jetzt, „den Utopien von Freiheit und Gleichheit in den gesellschaftlichen Strukturen, die wir schaffen wollen, konkreten Ausdruck zu verleihen“ (S. 58). Die Schaffung eines neuen Menschen (Che Guevara) müsse also schon vor und während einer fortschrittlichen Umwälzung der Gesellschaft geschehen. Sie ist Voraussetzung des Aufbaus von etwas Neuem und nicht erst Ergebnis dessen.
Auch die Deutung der Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen hält er für „extrem reduktionistisch“ (S. 175), denn bisher seien alle gestürzten Zivilisationen mit den Machthabern und ihren Knechten gemeinsam untergegangen: „Genauer gesagt: die Geschichte verläuft nicht gemäß der engen Logik ‚Klasse gegen Klasse‘. (…) Gründung und Zerfall von Systemen von Macht und Zivilisation laufen nach anderen Deutungen und Strategien ab. Die Logik des Klassenkampfs bedeutet entweder, sich dem bestehenden Machtsystem (der Zivilisation) bewusst als neue Form der Macht anzuschließen, oder (…) nichts anderes zu erreichen, als frisches Blut für sie zu werden, wie es die Sowjets und China gezeigt haben. Diese Interpretation möchte ich zur Diskussion stellen“ (S. 176). Es gehe laut Öcalan nicht darum, die Macht zu erringen, sondern sie insgesamt zu hinterfragen: „Die Gründer des Sozialismus kamen über die Kultur der zivilisierten Gesellschaft an die Macht. (…) Sie wollten nicht verstehen, dass die prächtige Hure namens ‚Macht‘ jeden Freier verführen würde“ (S. 180).

Insgesamt stellt Öcalan viele seiner Thesen „zur Diskussion“ (S. 176), sieht seine Schriften als „amateurhaft“ (S. 198) und will nicht anmaßend sein (S. 196). Damit widerlegt er das Klischee eines überheblichen, sich selbst als unfehlbar sehenden kurdischen Führers und begibt sich in eine Arena der Diskussion, die nicht ungefüllt bleiben sollte. Auch der erstaunlich hartnäckige Vorwurf des Nationalismus gegen die kurdische Bewegung ist nach der Lektüre des Buches kaum aufrecht zu halten. So schreibt Öcalan: „Ich möchte ganz klar sagen, dass mir nicht im Traum einfiele, Nationalismus (…) zu betreiben. Vielmehr bin ich überzeugt, dass meine Interpretation gerade jeglichem Nationalismus entgegenwirkt“ (S. 110), denn „darauf zu beharren, immer ‚identisch‘ bleiben zu wollen, ist die Negation von Entwicklung“ (S. 65).

Zikkurat und Zivilisation

Ausgangspunkt für die Entstehung von Zivilisationen ist für Öcalan das System der Zikkurat, das etwa 5000 v. Chr. in Mesopotamien entstand. Zikkurat sind Tempel, um die sich Gesellschaft organisierte. Sie bestehen aus drei Stufen, die jeweils eine Funktion erfüllen. Im Erdgeschoss lebten die unteren Menschen, die für die Bearbeitung des Bodens (Eigentum der Zikkurats) verantwortlich waren. Im zweiten Stockwerk lebten die Priester, die die Verwaltungsaufgaben übernahmen. Im dritten, obersten Stockwerk lebten imaginäre göttliche Wesen. So stand de facto die Priesterklasse an der Spitze des Tempels. Sie war verantwortlich für die „Konstruktion“ von Göttern (S. 152) und die Gestaltung der Gesellschaft (Öcalan: „social engineering“, S. 156). Darauf aufbauend (und umliegend) entstehen eine durch Klassen geprägte Stadt, Kultur und letztendlich ein Klassenstaat (S. 167). Diese Grundlage der Zivilisation spiegele sich bis heute in allen Gesellschaften wieder: „Eine europäische Kultur unabhängig von Mesopotamien, der Wiege der Kultur (…) ist nicht vorstellbar“ (S. 249).

Öcalan definiert am Ende des Buches Zivilisation wie folgt: „Nach einer eher wissenschaftlichen Definition, die ich gerne verwende, ist die zivilisierte Gesellschaft diejenige Gesellschaft, welche mit der Stadt und der Aufspaltung in Klassen entstand und die durch die ‚Staat‘ genannte Organisation gelenkt wird. (…) Die staatliche Organisation ist im Grunde ein kollektives Instrument, um (…) Eigentum zu schützen und die Gesamtheit des Mehrprodukts an die Eigentümer zu verteilen. (…) Natürlich waren dafür in der Geschichte immer riesige Armeen, Bürokratien, Waffen und Instrumente zur Legitimation notwendig. Zum Staat loyale Wissenschaft, Utopien, Philosophie, Kunst, Recht, Ethik und Religion wurde geschaffen“ (S. 260).

In der Entstehung des (National-)Staats aus der Zivilisation der Zikkurate sieht er eines der größten Probleme der Gesellschaft: „Der mindestens fünftausendjährige historische Kampf (…) verläuft zwischen der staatlichen Zivilisation (im Wesentlichen beruhend auf Klassenstadt- und staat) und der nichtstaatlichen demokratischen Zivilisation“ (S. 297).
Und hier sind wir wieder bei der Wirkmächtigkeit von Öcalans Denken. Das Ziel der kurdischen Bewegung ist heute nicht mehr die Gründung eines Nationalstaates. Sie will das Zusammenleben im Nahen/Mittleren Osten (und nicht nur dort) in nichtstaatlicher Form auf Basis einer Art Rätedemokratie organisieren, die sich Demokratischer Konföderalismus nennt.

Viele Aspekte des Buches wurden im vorliegenden Text nicht beachtet. So die Rolle der neolithischen Gesellschaft, als einer Art Ur-Kommunismus, die allerdings nicht als „Paradies“ (S. 256) zu betrachten sei, oder auch die Entstehung des Patriarchats als Bündnis zwischen alten Männern mit militärischer Macht und Schamanen, den Vorgängern der Priester der Zikkurat.

Wer Einblick in die Gedankenwelt der kurdischen Bewegung und ihres inhaftierten Vordenkers Abdullah Öcalan gewinnen will, der sollte sich intensiv mit diesem Werk beschäftigen. Denn es spielt bei der Neugestaltung des Mittleren Ostens, insbesondere Rojavas, eine tragende Rolle. Die Gründung von Lesekreisen, die die einzelnen Kapitel kritisch diskutieren, dürfte für ein tiefergehendes kritisches Verständnis sinnvoll sein. Ein Anhang mit weiterführender Literatur, besonders zum aktuellen Stand der archäologischen Ausgrabungen in Mesopotamien, hätte nicht geschadet, da Öcalan zu seinen historisch-archäologischen Quellen keine Angaben macht.

Wie zu Beginn schon geschrieben: Mit „Zivilisation und Wahrheit“ wird eine Seite Öcalans deutlich, die im medialen Diskurs des Westens nicht existiert und nur wenigen Menschen bekannt ist. Leider wird es das Buch schwer haben, auf dem deutschen Büchermarkt wahrgenommen zu werden, da es mit der „International Initiative Edition“ in keinem großen Verlag erschienen ist. Es hat aber Aufmerksamkeit und Diskussion verdient. Deshalb bleibt zu hoffen, dass Rezensionen wie diese dazu anregen, das Buch durchzuarbeiten.  Und dass die vier weiteren Bände des „Manifests der demokratischen Zivilisation“ so schnell wie möglich ebenfalls ins Deutsche übersetzt werden.

Literatur
Engels, F. (1884). Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. Online abgerufen am 31. Mai 2017.

Lenz, I., & Luig, U. (1995). Frauenmacht ohne Herrschaft: Geschlechterverhältnisse in nicht patriarchalischen Gesellschaften. Frankfurt am Main: Fischer.

Metscher, T. (2016). ProMosaik im Gespräch mit Prof. Dr. Thomas Metscher über Marxismus. Online abgerufen am 31. Mai 2017.

Anmerkung
Diese Rezension erschien ursprünglich auf http://medienblog.hypotheses.org/. Dies ist der Blog des Lehrbereich Meyens am IfKW der LMU München. Den Originalbeitrag findet ihr deshalb hier.

Empfohlene Zitierweise (von Originalblog)
Kerem Schamberger: Der andere Öcalan. Rezension zu Abdullah Öcalan: Zivilisation und Wahrheit. Maskierte Götter und verhüllte Könige. Manifest der demokratischen Zivilisation. Band 1. Köln: Internationale Initiative 2017. In: Michael Meyen (Hrsg.): Medienrealität 2017. http://medienblog.hypotheses.org/315 (Datum des Zugriffs)

Bildquellen
Buchtitelseite (Amazon)
Abbildung der Inanna (Helen Simmonson, Wylio)
Zikkurat-Tempel (Wikipedia)