Delegation nach Armenien

Liebe GenossInnen, liebe FreundInnen,

vom 31.10.20 bis 4.11.20 werde ich an einer Delegation nach Armenien teilnehmen, um über die Auswirkungen des brutalen Krieges Aserbaidschans gegen Armenien zu informieren. Es werden Menschen aus ganz Europa (Österreich, Belgien, Zypern, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Italien, Niederlande, Spanien, Schweiz, Ukraine) und Russland dabei sein. Darunter sind JournalistInnen, viele ArmenierInnen der Diaspora und PolitikerInnen. Zum Beispiel GenossInnen aus Spanien und dem Baskenland. Auch der Sohn von Charles Aznavour ist Teil der Delegation. Ich werde für die marxistische linke dabei sein*. Aus Deutschland kommt zudem der Journalist Jan Jessen mit, dessen Berichte über Kurdistan immer wieder lesenswert sind. Die Delegation wird organisiert von der Armenischen Allgemeinen Wohltätigkeitsunion (AGBU).

Es ist wichtig, sich dabei nicht vom Nationalismus, der in Kriegszeiten auf jeder Seite Hochkonjunktur hat, anstecken zu lassen, sondern eine linke Position zu vertreten, die auf einen sofortigen (wirksamen) Waffenstillstand und politische Verhandlungen setzt. Vorbild könnten die sogenannten Madrid-Prinzipien von 2007 sein, „die eine friedliche Lösung des Konflikts durch Rückgabe einiger armenisch besetzter Gebiete an Aserbaidschan und ein autonomes Nagorny Karabach mit einem Korridor nach Armenien im Norden des Latschin-Korridors vorgesehen hatten.“ Übrigens hat auch die türkische Regierung bis 2009 einen ähnlichen Standpunkt vertreten, wie der armenischstämmige HDP-Abgeordnete Garo Paylan hervorhebt (und für seine auf Ausgleich und Frieden setzende Position von türkisch-nationalistischer (Regierungs-)Seite massiv angegriffen wird und derzeit um sein Leben fürchten muss). Eine Diskussion der von Abdullah Öcalan geprägten Ideen des Demokratischer Konföderalismus, der eine Organisation gesellschaftlichen Zusammenlebens jenseits nationalstaatlicher Grenzen vorschlägt, bei der jede kulturelle, religiöse oder sonstige Gemeinschaft ihr Recht auf ein gemeinsames Leben in Vielfalt realisieren kann, könnte für eine nachhaltige Konfliktlösung ebenfalls sinnvoll sein (selbst wenn diese derzeit noch in den Sternen steht).

Doch es wäre auch nicht richtig, sich in diesem Konflikt auf eine vermeintlich unparteiische Position zurückzuziehen. Der Aggressor ist Aserbaidschan beziehungsweise die Türkei. Man muss es ganz klar sagen: ohne die massive politische und militärische Rückendeckung seitens der Türkei, hätte Aserbaidschan diesen Krieg nicht begonnen. Die AKP hat in den letzten Jahren (neben Israel, siehe Drohnentechik) das Regime der Aliev-Dynastie, das seit 1993 an der Macht ist, unterstützt und massiv aufgerüstet (Der Westen ist natürlich rüstungstechnisch wie immer auch mit dabei). Auf diplomatischer Ebene spricht Erdogan immer wieder von den „zwei Staaten, eine Nation“ und untermauert damit seinen neoosmanischen Anspruch Vertreter aller Turkvölker in der Region zu sein. Und nicht zuletzt schickt die Türkei derzeit mehrere tausend Dschihadisten aus Syrien nach Aserbaidschan, um dort gegen die ArmenierInnen zu kämpfen** und dort, laut eigener Aussage, die Aufgabe zu Ende zu bringen, die vor 100 Jahren begonnen wurde. Ein direkter Bezug auf den türkischen Völkermord vor 105 Jahren, der auf internationaler Ebene zu keinerlei Empörung geführt hat.

Auch wenn sie marginalisiert sind, gibt es auf beiden Seiten wichtige progressive und linke Stimmen, die ebenfalls für Frieden und einen gerechten Ausgleich eintreten. Hier eine Sammlung der Erklärungen, die mir bisher bekannt sind (wenn ihr weitere kennt, schickt sie mir gerne zu):

  • Ein sehr lesenswertes Statement der Azerbaijani Leftist Youth: „Our enemy though is not a random Armenian, whom we have never met in our lives and possibly never will. Our enemy are the very people in power, those with specific names, who have been impoverishing and exploiting the ordinary people as well as our country’s resources for their benefit for more than two decades.“
  • Ein Anti-Kriegs-Statement, das von Einzelpersonen unterzeichnet ist: „The current struggle for stopping the war that completes the chain of Armenian-Azerbaijani armed conflicts and pogroms and eliminating the possibility of new wars is not just anti-war. It is a part of the anti-colonial, anti-capitalist and anti-fascist struggle.“
  • Besonders lesenswert finde ich auch diese Erklärung aus Armenien, weil sie eine Lösungsperspektive jenseits der Zwangsjacke des Nationalstaates aufmacht, dem allgegenwärtigen Nationalismus entgegentritt und anschlussfähig für Ideen des Demokratischen Konföderalismus ist: „We dream of a post-nationalist, pluralist and sustainable cohabitation for the people of Caucasus within a life-oriented political ecology, through the creation of internationalist self-governed and autonomous communities in the region.“
  • Einen internationalen Friedensaufruf der Caucasus Talks mit Unterzeichnenden aus der ganzen Welt (und besonders vielen aus der Türkei, was mich freut): „Defending peace is not a neutral position. We reject the militarist positions conditioned by narratives of war and instead seek pathways to build peace.​ (…) This war has no winners. It brings misery, death, poverty and loss of independence to the whole Caucasus region.“
  • Auch diese Erklärung des militanten linken Bündnisses Vereinte Revolutionäre Bewegung der Völker (HBDH) in der Türkei ist lesenswert, weil sie zum einen auf die Völkerfreundschaft setzt und zum anderen den türkischen Aggressor klar benennt: „Our Armenian and Azerbaijani peoples have no benefit in this new war. They must refuse to participate this war initiated by their reactionary states. They should struggle to make Karabakh to be a homeland where our Armenian and Azerbaijani people can live together. (…) It is a priority to take action against racist fascist attacks against our Armenian people and to be a barricade against these attacks.“

Natürlich gibt es an dem ein oder anderen Aufruf Kritik, manchmal wird die Rolle der Türkei nicht genügend erwähnt oder die armenische Regierung, die 2018 durch eine Art bürgerlich-demokratische Revolution an die Macht kam, unzulässigerweise mit dem undemokratischen Aliev-Regime gleichgesetzt. Für mich kommt es in diesem Moment des heißen Krieges nicht auf Einzelheiten an. Jede Friedensinitiative ist zu begrüßen, auch wenn man sich bewusst sein sollte, dass „when reading texts like this it is necessary to, first and foremost, take into account the fact that their real impact is insignificant“, wie die UnterzeichnerInnen des „Common ground: anti-war statement“ hervorheben. Dieser Fakt und die Geschichte meiner armenischen Studentin Ashkhen, die am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung – an dem ich beschäftigt bin – studiert, hat mich dazu gebracht, Teil der AGBU-Delegation und damit tätig zu werden. Sie erzählte mir kürzlich, dass nun auch ihr Bruder eingezogen wurde, um an der Verteidigung ihres Dorfes teilzunehmen. Es liegt auf armenischem Staatsgebiet, aber die aserbaidschanischen Truppen stehen kurz davor. Ihre Familie verharrt in Mitten der Gefechte im Dorf aus, weil sie ihren Sohn nicht alleine lassen wollen. Und Ashkhen ist in Deutschland und organisiert die Proteste der armenischen Diaspora in ganz Europa mit. Wie kann man da noch still bleiben und nichts tun? Vor allem wenn man sieht, wie die Menschen in Europa nur noch mit Corona beschäftigt sind, aber den Krieg, der tausenden Menschen das Leben gekostet hat, nicht wahrnehmen.

Das Programm der Delegation sieht den Besuch von geflüchteten Familien vor, die Fahrt ins Grenzgebiet (je nach Sicherheitslage) und Gespräche mit armenischen PolitikerInnen sowie VertreterInnen der völkerrechtlich nicht anerkannten Republik Arzach. Daneben versuche ich derzeit noch Treffen mit linken Organisationen auszumachen, etwa mit der Kommunistischen Partei Armeniens oder dem linken Onlinemagazine Sev Bibar (Kennt ihr weitere Gruppen und/oder habt Kontakt? Dann meldet euch gerne). Wenn es JournalistInnen gibt, die über diese Delegation berichten wollen oder Stimmen von vor Ort brauchen, kann ich gerne kontakt herstellen.

Ich bin kein Experte, was den armenisch-aserbaidschanischen Konflikt angeht. Deshalb ist es wichtig, dass es einige gute Analysen dazu gibt. Sie haben mir geholfen und ich empfehlen sie gerne (falls ihr weitere kennt, schickt sie mir zu):

Noch eine Bemerkung dazu, dass die Faschisten der AfD meinen jetzt einen auf „Verteidigung des christlichen Abendlandes gegen die islamistischen Horden“ machen zu müssen und der Nazi Andreas Kalbitz sich in Bergkarabach fotografiert hat lassen. Es geht in diesem Konflikt nicht um einen Kampf der Religionen, es geht primär um geostrategische und ökonomische Interessen, vor allem auf Seiten der Türkei, Russlands, des Iran und Israels und die jeweiligen Bündniskonstellationen sind mehr als überraschend (dazu zu einem späteren Zeitpunkt mehr).Hinzu kommt, dass Aserbaidschan eine der säkularsten mehrheitlich muslimischen Gesellschaften überhaupt ist. Das Aliev-Regime unterbindet den Einfluss von schiitischem Islamismus strikt. Wenn die AfD meint sich mit Armenien solidarisieren zu können, sollte sie erstmal die eigene Geschichte ihrer ideologischen Vorväter in der Mitwirkung am armenischen Genozid aufarbeiten. Das Buch „Beihilfe zum Völkermord“ von Jürgen Gottschlich (2015) dokumentiert akribisch die deutsche Beteiligung an dem Völkermord.

Umso wichtiger ist es als Linke an einer Delegation teilzunehmen und aus einer internationalistischen, auf Frieden und Ausgleich setztenden Position heraus deutlich zu machen, dass der Krieg sofort gestoppt werden muss.

Wenn es das Internet zulässt, könnt ihr auf Facebook, Twitter und Instagram beobachten und kommentieren, wie der Verlauf der Delegation sein wird.

Solidarische Grüße

Kerem

* wenn der obligatorische Corona-Test negativ ausfällt

** Übrigens stellen diese syrischen Dschihadisten auch für die aserbaidschanische Bevölkerung eine große Gefahr dar. Letztere sind vor allem SchiitInnen, während die Dschihadisten sunnitischen Glaubens sind, die in Syrien einen erbarmungslosen Kampf auch gegen SchiitInnen geführt haben. Ein nicht zu unterschätzender Teil der von der Türkei nach Aserbaidschan geschickten Söldner dürfte die Reise aber auch weniger aus ideologischen Gründen angetreten haben, sondern vor allem aus ökonomischer Not und Perspektivlosigkeit heraus. Sie sollen dafür bis zu 1500 Dollar im Monat erhalten und werden derzeit an der Front verheizt. Damit entledigt sich Erdogan übrigens auch nach und nach eines Problems, das ihn sonst in Bedrängnis hätte bringen können: Was macht man mit einer ganzen Generation junger Männer, die nichts als Krieg gelernt haben und von der Türkei ausgebildet und ausgehalten wurden? Man schickt sie in weitere Kriege nach Aserbaidschan und Libyen und hofft so, dass sich dieses Pulverfass damit sukzessive selbst entschärft, bevor es in den Händen Erdogans explodiert.