Am Sonntag, den 6. September 2021, habe ich auf Einladung der Linksjugend Solid Erlangen eine Rede auf der Kundgebung „Stoppt den Krieg gegen Kurdistan“ am Rathausplatz gehalten. Es waren ungefähr 60 solidarische Menschen anwesend. ANF Deutsch berichtete. Aus Gründen der Dokumentation veröffentliche ich hier mein Redemanuskript:
Liebe FreundInnen, liebe GenossInnen, liebe interessierte Menschen,
es freut mich, dass ihr alle heute unter dem Slogan „Stoppt den Krieg gegen Kurdistan“ zusammengekommen seid! Es ist sehr wichtig, dass wir heute alle dafür auf der Straße sind – was dort in der vermeintlichen Ferne Kurdistans abgeht, hat auch sehr viel mit Deutschland und der Bundesregierung zu tun – dazu gleich mehr.
Momentan ist ja Wahlkampf und vieles ist nur auf innenpolitische Themen fokussiert. Und natürlich auch auf die Niederlage des Westens in Afghanistan. Die Linksjugend Erlangen schreibt in ihrem Demo-Aufruf richtig: „Nur weil er weitgehend aus den Schlagzeilen verschwunden ist, hat der Krieg gegen Kurdistan nicht aufgehört.“
Das was gerade in Kabul passiert – das der Westen die Leute hilflos zurücklässt, die seinen leeren Versprechungen geglaubt haben und sich sehr engagiert für Menschenrechte, Frauenrechte und freie Bildung eingesetzt haben – das ist in Kurdistan in den letzten Jahren immer wieder passiert.
Wir erinnern uns an die völkerrechtswidrigen Angriffskriege der türkischen Armee gegen Nordsyrien/Rojava im Frühjahr 2018 und Herbst 2019, als türkische Soldaten zusammen mit dschihadistischen Söldnern das freie Rojava angegriffen und Teile davon besetzt haben. Diese Angriffe sind nur möglich gewesen, weil die USA, Europa, aber auch Russland den Türken grünes Licht gegeben haben. Seitdem herrscht zum Beispiel in Afrin in Nordwest-Syrien ein brutales islamistisches Regime. Frauenrechte gibt es dort nicht. Mehr als 150 Frauen wurden alleine dort seit der türkisch-dschihadistischen Besatzung entführt, wie das „Missing Afrin Women Project“ gut dokumentiert hat. Viele dieser Frauen wurden vergewaltigt und umgebracht. Und das unter den Augen des Nato-Landes Türkei. Ein unglaublicher Skandal, der deutlich macht, für welche Werte die Nato und ihre Mitglieder im Zweifel stehen: Für Krieg, Vertreibung und Flucht!
Und die türkischen Angriffe gehen immer weiter – auch in diesem Moment. In den letzten Tagen hat die türkische Luftwaffe es genutzt, dass die gesamte internationale Aufmerksamkeit auf Afghanistan lag und ihren Drohnenkrieg gegen Kurdistan noch mal massiv ausgeweitet.
Und zwar nicht nur gegen Stellungen der kurdischen Freiheitsbewegung, sondern gegen Ezidinnen und Eziden! Ja, genau gegen diejenigen, die 2014 einen Genozid seitens des sogenannten Islamischen Staates durchleben mussten – mit tausenden Toten und bis heute entführten und versklavten Frauen – genau sie werden nun von der türkischen Luftwaffe bombardiert. Erst letzte Woche hat es ein ezidisches Krankenhaus in Shengal getroffen. Acht Menschen wurden bei einem Luftangriff getötet, darunter drei Krankenschwestern und ein Arzt sowie Patienten, die in der Klinik gerade behandelt wurden. Am Dienstag soll es zudem zu einem Drohnenangriff auf ein ezidisches Flüchtlingslager in Zaxo/Südkurdistan gekommen sein mit zwei Toten. Und ebenfalls vergangene Woche bombardierte die Türkei ein Haus in der kleinen Stadt Til Temir in Rojava und tötete dabei die Kommandantin der Frauenverteidigungseinheiten YPJ, Sosin Bîrhat. Sie war eine der wichtigsten KämpferInnen gegen den IS und hat den Widerstand der Frauen dort maßgeblich mitorganisiert. Jetzt wurde sie von der Türkei umgebracht. Und der Westen, die EU und die Bundesregierung schweigen zu diesen Taten!
Man muss es so hart sagen: das was die IS-Terrormiliz vor sieben Jahren nicht schaffte, versucht heute das AKP-Regime zu vollenden – die Auslöschung von EzidInnen, KurdInnen und allen anderen Gruppen, die nicht ins Staatsverständnis der Türkei passen!
Liebe FreundInnen, das waren nur ein paar Beispiele, was die Türkei in ihrem neoosmanischen Expansionsdrang im Ausland alles macht. Im Inneren sieht es jedoch nicht viel besser aus.
Die AKP und Erdogan befinden sich in einer massiven vielfältigen Krise: Die Wirtschaft und die Währung sind abgestürzt, Staatseinnahmen brechen wegen Corona ein und die Umfragewerte sind so tief wie noch nie. Laut einer aktuellen Umfrage wollen nur noch 29% der WählerInnen die AKP wählen. 2018 hatte sie noch 42% der Stimmen bekommen.
Und wie reagieren Regierungen, wenn sie in der Krise sind? Sie schaffen Sündenböcke und setzen auf gesellschaftliche Polarisierung, um vom eigenen Versagen abzulenken.
Der größte Sündenbock sind – wie schon so oft – die politisch organisierten KurdInnen und die türkische Linke.
Ihr alle kennt vermutlich die größte Oppositionspartei, die Demokratische Partei der Völker (HDP) – eine linke Bündnispartei, die sich für Demokratisierung, Dezentralisierung und Frieden in der Türkei einsetzt. In deutschen Medien wird sie oft einfach nur als pro-kurdisch bezeichnet, doch das ist falsch, weil sie auch eine Vertreterin der Rechte arbeitender Menschen, der Frauen, der LGBTIQ-Bewegung, der Umweltbewegung und anderer gesellschaftlich unterdrückter Gruppen in der Türkei ist.
Sie ist das Gegenteil der AKP und Erdogans, der immer wieder den ultranationalistischen Slogan „Ein Vaterland, ein Volk, eine Fahne, ein Staat“ wiederholt und damit alle ausschließen will, die sich dem nicht unterordnen wollen.
Diese Partei soll nun verboten werden – ein entsprechendes Verfahren läuft gerade beim Verfassungsgericht – und da es keine Gewaltenteilung in der Türkei mehr gibt, ist ein Verbot abhängig vom politischen Willen des Regimes.
Aber die HDP ist de facto schon seit Jahren einem solchen Druck ausgesetzt, dass es an ein Wunder grenzt, dass ihre Strukturen nach wie vor bestehen.
Ein paar Zahlen: In den letzten sechs Jahren wurden mehr als 25.000 Mitglieder und AktivistInnen der HDP inhaftiert. Das muss man sich mal vorstellen. In Bayern hat die Linkspartei 3400 Mitglieder. In ganz Deutschland sind es 60.000. Das wäre also so als ob man die Hälfte der Linkspartei inhaftiert hätte. Und trotzdem machen die Genossinnen und Genossen vor Ort weiter – an dieser Stelle sollten deshalb wirklich solidarische und herzliche Grüße von uns an sie gehen!
Liebe FreundInnen, es trifft aber nicht nur organisierte Linke und Kurden. Seit Wochen herrscht in der Türkei eine pogromartige Stimmung gegen alles Kurdische. Und warum? Es gab massive Waldbrände in der Westtürkei und dem AKP-Regime ist nichts anderes eingefallen, nicht die Klimakatastrophe, sondern sogenannte „PKK-Unterstützer“ dafür verantwortlich zu machen. Wann immer es geht, hetzen türkische Minister gegen KurdInnen und die HDP. Das AKP-Klientel weiß diese Phrasen zu lesen. Nationalistische Mobs haben daraufhin Straßensperren errichtet, Ausweise kontrolliert und Menschen aus Nordkurdistan versucht zu lynchen.
Die jahrelange Politik des Hasses trägt blutige Früchte. Im Juni wurde die Genossin Deniz Poyraz im HDP-Büro in Izmir von einem türkischen Faschisten ermordet, der zuvor als Söldner in Syrien gekämpft hat. Er plante ein noch viel größeres Attentat und nur weil durch einen Zufall eine HDP-Versammlung abgesagt worden war, ist es bei nur einem Mord geblieben. Wobei auch dieser Mord einer zu viel ist!
Ende Juli wurden sieben Mitglieder der Familie Dedeogullari in Konya von einem anderen türkischen Faschisten ermordet. Die Familie war zuvor schon von ihm und einem Mob im Mai bedroht und angegriffen worden. Und wie hatte der Staat da reagiert? Er hat die Täter im Mai schnell freigelassen und unter Polizeischutz gestellt. Die Täter! Nicht die angegriffene kurdische Familie, die ihre Angst vor einem größeren Attentat immer wieder ausdrückte. Und so kam es dann ja auch. Im Schutz des Staates konnte dieser Massenmord vorbereitet und druchgeführt werden.
Und es ist kein Wunder: der Polizeichef von Konya – er heißt Engin Dinc – der für die Freilassung verantwortlich war, hat eine lange Geschichte: er wusste zum Beispiel über die Attentatspläne des Mörders des armenischen Journalisten Hrant Dink im Jahr 2007 bescheid – und griff nicht ein. Und als der IS am 10. Oktober 2015 in Ankara auf eine Friedensdemonstration den blutigsten Anschlag in der türkischen Geschichte verübte – 103 Menschen starben damals – war es ebenfalls Dinc, der als Polizist Informationen über mögliche Attentäter zu spät weitergab – und zwar erst genau am Tag des Anschlages. Was ist von einem Staat, der aus solchen Strukturen und einem solchen Personal besteht, zu halten?
Kurde und Kurdin zu sein, auf der Straße kurdisch zu sprechen oder offen zu seinen politischen Werten zu stehen, ist mittlerweile lebensgefährlich geworden in der Türkei.
Die sogenannte „Kurdische Frage“ ist zur Chiffre aller demokratischen Probleme der Türkei geworden – die AKP kann und wird sie nicht lösen, denn mit einer Demokratisierung des Landes wird auch Erdogan und die AKP auf dem Müllhaufen der Geschichte landen – und das tun sie hoffentlich auch bald!
Ich habe am Anfang gesagt, dass was dort im Nahen Osten passiert auch sehr viel mit uns beziehungsweise mit unserer Bundesregierung zu tun hat.
Das meine ich ganz konkret: Diese Woche wurde bekannt, dass in der Türkei zurzeit 120 Deutsche im Gefängnis oder mit einer Ausreisesperre belegt sind, unter anderem weil sie wegen sogenannter Präsidentenbeleidigung angezeigt wurden oder hierzulande in legalen kurdischen Vereinen aktiv waren. Zwischen 2014 und 2021 wurden in der Türkei sage und schreibe 38.500 Verfahren wegen angeblicher Beleidigung von Erdogan eröffnet. Tausende wurden deswegen eingesperrt oder zu Geldstrafen verurteilt.
All das – die Angriffskriege, die Repression im Inneren, die Verhaftungen – könnte das AKP-Regime nicht durchführen, wenn es nicht die massive Unterstützung der Bundesregierung dabei hätte.
Sie gibt der Türkei diplomatisch Deckung, liefert Rüstung, verhindert Sanktionen und organisiert ihr Milliardenbeträge aus Europa – und sorgt damit für das Überleben Erdogans, der selbst tief in der Krise steckt.
Und warum macht die Bundesregierung das? Weil es im Interesse der deutschen Wirtschaft ist, dass deutsche Unternehmen in der Türkei weiterhin von den ausbeuterischen Arbeitsbedingungen und niedrigen Löhnen profitieren. Mehr als 7000 deutsche Firmen sind in der Türkei aktiv. Und weil die Türkei der Türsteher Europas ist und die Menschen daran hindert hierher zu fliehen.
Erst am 29. August twitterte Außenminister Heiko Maas – den man wirklich nur noch verabscheuen kann – „Wir sind der Türkei dankbar für ihr Angebot zum Weiterbetrieb des Flughafens in Kabul“.
Damit macht er das AKP-Regime zum Verbindungsglied der Taliban für die Nato. Wir werden noch staunen, wie schnell die Bundesregierung wieder nach Afghanistan abschieben werden – wenn ja schon der enge Partner Türkei so ausgezeichnete Verbindungen zu den Taliban hat.
Die engen Beziehungen führen auch dazu, dass wir, die wir in Deutschland solidarisch mit der kurdischen Freiheitsbewegung sind, von der deutschen Justiz verfolgt werden. Und dass KurdInnen, die vor Haft und Verfolgung hierher geflohen sind, ständig von Abschiebung bedroht sind. Seit Wochen erreichen mich fast täglich Hilferufe von KurdInnen. So zum Beispiel von den beiden alevitisch-kurdischen AkademikerInnen Sinem Mut und Anil Kaya. Obwohl sie in der Türkei in einem politischen Schauprozess jeweils zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt wurden, sollen sie abgeschoben werden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sagt dazu wortwörtlich: „Aus Sicht des Gerichts bestehen ebenfalls keine stichhaltigen Gründe für die Annahme, dass bei der Rückkehr ein ernsthafter Schaden droht. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die Volksgruppe der Kurden in der Türkei keinen landesweiten staatlichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt ist.“
Was geht ab! In welcher Welt leben diese Schreibtischtäter eigentlich?
Deshalb fordern wir:
- Diese tödliche deutsch-türkische Kumpanei und Waffenbrüderschaft muss endlich ein Ende haben!
- Es braucht Sanktionen und Einreisesperren, die die Elite des Regimes treffen und nicht die normale Bevölkerung
- Alle Waffenexporte und auch Wirtschaftshilfen müssen gestoppt werden, so lange das Regime seine repressive Politik fortsetzt
- Das mörderische EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen muss beendet werden, damit die Türkei dieses nicht länger als Druckmittel einsetzen kann. Dafür brauchen wir endlich eine solidarische Migrations- und Fluchtpolitik in Europa, die es den Menschen ermöglicht vor Krieg und Vertreibung legal hierher zu kommen.
- Das PKK-Verbot in Deutschland muss aufgehoben werden, um auch hier einen Friedensprozess zwischen der Türkei und den KurdInnen auf Augenhöhe zu ermöglichen. Deutschland könnte hier vermitteln.
Zeigen wir uns solidarisch mit den demokratischen und oppositionellen Kräften in der Türkei und Kurdistan, mit der HDP und der kurdischen Freiheitsbewegung!
Schulter an Schulter gegen Faschismus!
Hoch die internationale Solidarität!