Nach Aufhebung der Immunität – Bleiben jetzt nur noch die Berge?

Am vergangenen Freitag (20.05.16) war es soweit, die monatelange Debatte um eine Aufhebung der Immunität von Parlamentsabgeordneten in der Türkei ist zu einem Ende gekommen: Mit 376 Stimmen wurde die Verfassungsänderung zur Immunitätsaufhebung vom türkischen Parlament angenommen. Nun könnte man argumentieren, dass dies ja alle Parlamentarier betreffen wird und nicht nur die Abgeordneten der linken Demokratischen Partei der Völker (HDP). Das stimmt, aber Deniz Yücel schreibt in Die Welt richtig, dass die meisten Strafverfolgungsanträge gegen die HDPler viel schwerer wiegen, „als die gegen die 88 Abgeordneten aus allen übrigen Fraktionen: Propaganda für eine Terrororganisation, Mitgliedschaft, gar Gründung einer solchen. Insgesamt hatten sich bis zum 24. Dezember vergangenen Jahres aus der laufenden und früheren Legislaturperioden 330 Anträge auf Aufhebung der Immunität angesammelt, darunter 182 gegen Abgeordnete der HDP.“

Das Satire-Magazin Extra 3 kommentierte die Immunitätsaufhebung passend:

Noch während der Parlamentsdebatte am Freitag wurden alleine acht neue Anträge auf Aufhebung der Immunität gegen Abgeordnete, darunter gegen die junge Nichte Abdullah Öcalans und HDPlerin, Dilek Öcalan, gestellt.
Die Anklagen sind dabei auffällig unprofessionell und schnell zusammengeschustert. Teilweise wird einfach eine Rede von HDP-Abgeordneten im vollen Wortlaut zitiert und dann darunter „Das erfüllt den Straftatbestand der Propaganda für eine Terrororganisation“ geschrieben. Das diese juristisch unhaltbaren Anklagen vor türkischen Gerichten keinen Bestand haben werden ist unsicher, zu stark ist mittlerweile die Kontrolle und Durchsetzung des Justizsystems durch die AKP-Regierung und Erdogan-Handlanger. Und so müssen wir uns in den nächsten Wochen auf die Inhaftierung ranghoher HDP-Abgeordneter einstellen. Mit Kamuran Yüksek, Ko-Vorsitzender der Partei der Demokratischen Regionen (DBP), der kurdischen Partei innerhalb der Bündnispartei HDP, wurde vor zwei Wochen bereits einer der wichtigsten Repräsentanten der vielfältigen kurdischen Freiheitsbewegung inhaftiert. Er besitzt zwar kein Abgeordnetenmandat, die Inhaftierung macht aber deutlich, dass türkische Sicherheitskräfte und Richter nun nicht mal mehr vor Spitzenpolitikern zurückschrecken.

„(…) lasst sie den Preis, der dafür nötig ist, bezahlen.“

In einer ersten Erklärung war Präsident Erdogan voll des Lobes für die 376 Parlamentarier, die für die Aufhebung der Immunität stimmten. Außerdem erklärte er, dass „mein Volk in diesem Land keine schuldigen Parlamentarier im Parlament sehen will. Vor allem diejenigen, die eine spalterische Terrororganisation unterstützen, wollen sie erst recht nicht im Parlament sehen.“ „Nehmt sie, stellt sie vor Gericht und lasst sie den Preis, der dafür nötig ist, bezahlen.“ bemerkte er mit Blick auf die HDP-Abgeordneten.
Am gleichen Tag machte Erdogan auch noch mal deutlich, was er von Presse- und Medienfreiheit hält. In Richtung internationaler Pressevertreter sagte er: „Man sieht, wie sie sich einen Fotoapparat kaufen und aus verschiedenen Teilen der Welt, aus England, Frankreich, aus verschiedenen Orten Europas, aus Amerika nach Diyarbakir kommen und herumspazieren. Was habt ihr dort zu suchen? Und dann folgen falsche Lügennachrichten. (…) Das ist ein fertiges Szenario (…) In allen internationalen Medien gibt es Kräfte, die die Türkei so darstellen wollen, als ob es dort derzeit einen Bürgerkrieg gäbe. Doch hier gibt es keinen Bürgerkrieg und sie werden uns auch nicht zu einem solchen verleiten. Wir werden diese Aufgabe mit Gottes Erlaubnis vollenden.“

Es stellt sich also die Frage: Adobe Spark

Die Zerstörung ganzer Städte

Nach der Abstimmung im türkischen Parlament bejammerten wichtige Vertreter Europas, Deutschlands und der großen Koalition heuchlerisch den Abbau demokratischer Rechte. Dabei waren sie es, die Erdogans Sitz im Sattel der türkischen Politik überhaupt erst so abgesichert hatten. Erinnert sei nur an die Stippvisite von Angela Merkel in der Türkei kurz vor den Neuwahlen im Oktober 2015. Eine eindeutige Wahlkampfhilfe für die AKP und Erdogan.
Oder die Aussage des EU-Ratspräsidenten Donald Tusk noch Ende April 2016: „Die Türkei ist heute das beste Beispiel in der Welt dafür, wie wir mit Flüchtlingen umgehen sollten. Keiner hat das Recht, die Türkei zu belehren.“ Und das nach Berichten von Human Rights Watch, die Belegen, dass türkische Grenzsoldaten aus Syrien kommende Flüchtlinge erschießen.
Und während sich alles um den Flüchtlings-Deal und die Aufhebung der Immunität dreht, geht der tägliche Wahnsinn in Nordkurdistan weiter. Man muss sich das einmal vorstellen: Mehrere kurdische Großstädte, mit hunderttausenden Einwohnern, sind bisher so gut wie komplett zerstört oder unbewohnbar gemacht worden, darunter Cizre, Sirnak, Nusaybin, Sur (in Amed). Mittlerweile gibt es immer mehr Videos, die das Ausmaß der Zerstörung deutlich machen. Diese werden hier unkommentiert, aber mit großer Trauer geteilt:

Die Zerstörung Nusaybins durch die türkische Armee. Berichten zu Folge bombardiert hier der NATO-Staat sogar mit der Luftwaffe, mit Kampfjets und Kampfhubschraubern. Die Kämpfe dauern bis heute an:

Die Zerstörung ?irnaks. Auch hier halten die Auseinandersetzungen noch an:

Die Zerstörung des Stadtteils Sur in der Millionenmetropole und heimlichen Hauptstadt Kurdistans Amed:

Auch der fortschrittliche Nachrichtensender imc tv hat heute erst die Zerstörung des historischen Stadtteils Sur dokumentiert.

Was nun?

Es stellt sich die Frage, wie es in dem Konflikt zwischen türkischem Staat und kurdischer Freiheitsbewegung nun weitergeht. Sämtliche demokratischen und parlamentarischen Wege sind erschöpft, täglich gibt es dutzende Festnahmen von HDP- und BDP-Politikern und Aktivisten, über die gar nicht mehr berichtet wird, da sie so alltäglich sind.
Der Sohn des berühmten fortschrittlichen Schriftstellers Aziz Nesin, Ali Nesin, veröffentlichte einen vielbeachteten Kommentar auf seiner Facebook-Seite. Der für seine Kritik an der PKK und gleichzeitigen Unterstützung der HDP bekannte Mathematiker schrieb:

Übersetzung: „Mit der Aufhebung der Immunität, haben die PKK, die Barrikaden, der Terror eine Gerechtfertigung erhalten. Dem kurdischen Volk wurde damit folgende Nachricht vermittelt: ‚Ohne die PKK seid ihr gar nichts‘. Außerdem gibt es für niemanden nun noch einen Grund die PKK zur Waffenniederlegung aufzufordern. Ich habe verstanden, dass alle meine Gedanken, die ich bisher in diesem Zusammenhang geäußert habe, falsch gewesen waren. Die PKK hatte Recht, ich hatte Unrecht.“
In einem weiteren Post erklärte Nesin: „Ich fasse zusammen: Seit einem Jahr schreibe ich, dass es für die PKK keine Existenzgründe mehr gibt, dass man die Probleme nicht mit der PKK in den Bergen, sondern mit der HDP im Parlament, am Tisch sitzend, lösen wird. Mit dem gestern im Parlament gefassten Beschluss zur Aufhebung der Immunität, sind mir keine Argumente mehr geblieben. Ich ziehe mich zurück.“Unterdessen kündigte auch die PKK-Ko-Vorsitzende Bese Hozat an, nun wieder verstärkt zum bewaffneten Kampf zurückzukehren. So sagte sie gegenüber der Tageszeitung Junge Welt:
„Also werden die Aktionen sowohl auf dem Land als auch in den Städten sowie in türkischen Metropolen sich verstärken. (…) Wir haben beschlossen, den Kampf in Nordkurdistan sowie in der Türkei zu intensivieren und zu radikalisieren.“  Weitere aktuelle Aussagen von Bese Hozat finden sich in einer Videoreportage des Lower Class Magazine, dessen Redakteure sich derzeit in Südkurdistan aufhalten:

Wenn die Europäische Union und auch die USA nicht ihren Druck auf das NATO-Mitgliedsland Türkei erhöhen und es nur bei „Wir sind aber wirklich ganz doll besorgt“-Erklärungen belässt, wird der Krieg des türkischen Staates gegen die Kurden und die Antworten der PKK auf die Angriffe weiter eskalieren. Dies gilt es zu verhindern. Auch indem in Deutschland massiver Druck auf die Bundesregierung ausgeübt wird, ihre Unterstützung für die Kriegspolitik Erdogans (u.a. durch Waffenlieferungen) zu beenden. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass damit gleichzeitig der menschenverachtende Flüchtlings-Deal zu Bruch geht. Sodass die aus Syrien, Afghanistan und Irak fliehenden Menschen nicht mehr in der Türkei ihr Dasein fristen müssen, sondern in die Länder gehen können, in die sie wollen.