Zwischen Zerstörung und Wiederaufbau: Rakka – 16/17.3.18

Dunkelheit. Schotterstraßen. Häuserruinen. Checkpoints. Diese Wörter fassen die Fahrt von Ain Issa nach Rakka am besten zusammen. Kurz vor Zwölf Uhr nachts kommen wir in der ehemaligen Hauptstadt des sogenannten „Islamischen Staates“ an. Es ist gespenstisch. Nur an wenigen Ecken brennt Licht, schemenhaft zeichnen sich zerstörte Häuser ab und an zentralen Punkten der Stadt stehen, um brennende Tonnen gedrängt, bewaffnete Kämpfer und kontrollieren vorbeifahrende Autos. Man kann nur ahnen wie Rakka bei Tag aussieht. Der erste Eindruck ist: Afterworld.
Unsere Unterkunft befindet sich in einem bewachten fünfstöckigen Häuserblock, von denen die Hälfte zerstört und die andere Hälfte gerade so bewohnbar gemacht worden ist. Früher haben hier Familien von IS-Kämpfern und -Bürokraten gewohnt, an manchen Wänden der zerstörten Wohnungen prangen noch die Logos der Dschihadisten. Auf unserem Hausdach sieht man den Einschlag eines Raketenwerfers, so als ob es gestern gewesen wäre, die Schmauchspuren noch an der Wand. Das Brummen von Stromgeneratoren übertönt alles, die Stadt wurde noch nicht wieder ans zentrale Stromnetz angeschlossen (das derzeit sowieso so gut wie nicht existent ist). In einem der Häuser sind verschiedene Medien untergebracht. Hier befinden sich Ableger der kurdischen Nachrichtenagentur ANHA, des Fernsehsenders Ronahi TV und auch der Ronahi-Zeitung. Die Mitarbeiter hier sind ausschließlich arabische Jugendliche, die von einer erfahrenen kurdischen Journalistin ausgebildet und angeleitet werden.

Rakka bei Tag

In der Früh des 16. März, ein Freitag, werde ich durch Gemüsehändler geweckt, die mit Lautsprechern durch die Gegend fahren und ihre Tomaten und Gurken anpreisen. Ein Lebenszeichen, das den ersten Eindruck der Stadt etwas Leben einhaucht. Der Tag verläuft ruhig, vormittags zieht ein Sandsturm gefolgt von Regen über die Stadt hinweg und bedeckt alles mit einer Staubschicht. Irgendwann kommt ein Tankwagen vorbei und pumpt Wasser in einen Behälter auf dem Dach des Hauses. Eine zentrale Wasserversorgung gibt es ebenfalls noch nicht. Aus Sicherheitsgründen sollen wir, also die Journalistin Gamze Kafar und ich, an diesem Tag das Gebäude nicht verlassen. Das ist nervig, da wir nichts von der Stadt sehen, aber später wird uns klar warum.

Zur Gast bei den SDF

Nach Sonnenuntergang, alles ist wieder dunkel, werden wir in ein schön hergerichtetes Gebäude gefahren, das derzeit von den SDF genutzt wird. Früher diente es dem IS als Gerichtsgebäude, in dem er sein Verständnis von „islamischem Recht“ praktizierte. Jetzt werden hier Verhandlungen mit arabischen Stammesführern geführt und Gäste empfangen. Die Zimmer sind für hiesige Verhältnisse luxuriös eingerichtet. Dies liege daran, dass hier Wert auf solchen zur Schau gestellten Prunk gelegt wird und dies die Verhandlungsbasis mit lokalen Mächten vor Ort verbessern würde, erklärt uns ein SDF-Kommandant, der uns empfangen hat (und dessen Namen ich vergessen habe). Es entwickelt sich ein interessantes Gespräch zur aktuellen Situation in der Stadt. Noch immer würden knapp 30% der Bevölkerung den Islamischen Staat unterstützen. Beziehungsweise erwarten sie seine baldige Rückkehr und lassen sich deshalb, teilweise auch aus Angst, nicht auf die neuen Strukturen ein. Besonders an Freitagen sei deshalb die Lage in der Stadt angespannt. Jetzt verstehen wir, warum uns an diesem Tag abgeraten wurde das Mediengebäude zu verlassen.
Der Kommandant erklärt uns weiter, dass im Zentrum der Stadt durch die amerikanischen Luftangriffe 50% aller Gebäude zerstört wurden, am Stadtrand ungefähr sind es ungefähr 10%. Erschütternde Zahlen. Noch immer ist die Gegend mit tausenden von Minen und anderen Sprengsätzen „verseucht“. Es gibt zwar Räumungseinheiten und internationale Unterstützung, diese bräuchten aber noch Monate, um alle Gebäude und Gelände zu sichern.
Angesprochen auf die ethnische Zusammensetzung der SDF erklärt der Kommandant, dass 85% der SDF-Einheiten, die in Rakka, Deir-e-Zor und Umgebung im Einsatz sind, arabischer Herkunft seien. Sie bekommen neben einer militärischen Ausbildung auch politischen Unterricht, so wie dies vor allem bei den YPG- und YPJ-Einheiten der Fall ist. Die Anzahl der Frauen unter Waffen ist hier viel geringer, allerdings gibt es in der Stadt auch weibliche Asayish, die für Sicherheit sorgen.

Die Innenstadt von Rakka – ein Bild der Zerstörung

Am nächsten Tag bekommen wir die Innenstadt zu Gesicht. Und das, was wir sehen ist schockierend. Es lässt sich eigentlich nicht mit Worten beschreiben. Kein Stein steht auf dem anderen. Keine Fensterscheibe ist ganz. Man fährt in Schlangenlinien durch Betonwüsten, explodierten Autobomben und umgeknickten Palmen. Teilweise sind die Häuser im Ganzen durch Druckwellen oder Luftangriffe einfach umgekippt. Sie liegen wie Dominosteine in der Gegend. Dazwischen finden sich immer wieder Zeichen von Leben. Wo auch nur ein Raum halbwegs heil geblieben ist, haben sich Menschen eingerichtet, ihr Geschäft wiedereröffnet oder eine Unterkunft für ihre Kinder gezimmert. Insgesamt befinden sich 130.000 der früher bis zu einer Million Menschen wieder in der Stadt. Es ist eine Mischung aus Zerstörung und Wiederaufbau. Symbolhaft steht dafür ein Bauarbeiter, der vor einem zerstörten palastartigen Gebäude steht und Stahlstränge aus Betonteilen herausklopft. Anschließend führt er den in alle Richtungen verbogenen Stahl in eine Maschine ein, die mit einem Generator betrieben wird. Am Ende kommt der Stahl gerade und geglättet wieder heraus und kann wiederverwendet werden, zum Bau neuer Häuser. Dazwischen spielen Kinder und zeigen das Siegeszeichen, wenn man sie fotografiert. Das hellt meine doch sehr bedrückte Stimmung auf. Wir fahren weiter zum Naim-Platz. Dort hat der IS öffentlich Menschen die Köpfe abgeschnitten und diese auf die Spitzen des Zaunes gesteckt, der den Platz umgibt. Das ist gerade einmal sechs Monate her, jetzt wehen dort die Fahnen der SDF, YPG und YPJ. Zusammen mit einem YPG-Kämpfer, der unser Fahrer ist, machen wir ein Bild und zeigen dabei ebenfalls das Victory-Zeichen. Ein Sieg, der teuer erkämpft wurde. Hunderte Kämpfer sind bei der Befreiung der Stadt gestorben und die US-Luftwaffe ist beim Bombardement nicht gerade rücksichtsvoll vorgegangen.

Die Stadt mag noch über Jahre zerstört sein, der Aufbau der politischen und zivilen Strukturen geht dafür sehr schnell voran und macht in Mitten all dieser Trümmer Hoffnung. Das bekomme ich in den Dörfern Ber Hesim und Hazima mit eigenen Augen zu sehen, die eine halbe Autostunde von der Stadt entfernt sind. Auf dem Weg dorthin sieht man riesige Strommasten, die wie ein Streichholz in der Mitte geknickt sind. Kein Wunder, dass es in der Stadt keine zentrale Stromversorgung gibt. In den besagten Dörfern hat der Zivile Rat Rakkas, den wir in Ain Issa schon kennenlernen durften, einen seiner vielen Sitze. In einem flachen Gebäude ist ein reges Kommen und Gehen. Hier werden Lebensmittelmarken verteilt und von einem Mann und einer Frau gewissenhaft abgestempelt. Im Gebäude nebenan tagt der örtliche Stadtrat und diskutiert hitzig über die schlechte Qualität des Brotes. Eine Frauenquote scheint es hier nicht zu geben, eine Frau sitzt mit 15 Männern im Zimmer. Uns wird gesagt, dass die Durchsetzung der Gleichberechtigung von Mann und Frau in den arabischen Gebieten langsamer vorangehe, weil die patriarchalen Strukturen hier noch stärker verankert als in den kurdischen Regionen sind. Es verbessere sich zwar langsam, aber insgesamt gibt es große Mängel. Auch seien bisher noch zu wenig Frauen bereit, für politische Ämter zu kandidieren. Dies soll das „Zentrum der Jugend Rakkas“ im gleichen Ort ändern. Dort sind junge Frauen und Männer untergebracht und bekommen über Wochen Kurse zu Gleichberechtigung, Frauenbefreiung, Ökologie und Basisdemokratie. Leider klappt die Verständigung mit den dortigen Jugendlichen nicht gut, weil wir keine gemeinsame Sprache sprechen. Allerdings sehe ich die praktische Umsetzung im Nachbardorf. Dort sendet seit vier Monaten das Radio „Denge Ciwanan“, also die „Stimme der Jugend“. Das Motto des Radios „Die Stimme der Freiheit und Zukunft“. Sieben Jugendliche, gerade mal Anfang 20, organisieren eigenständig eine Radiostation, die ins Umland Rakkas sendet. Es sind vier Frauen und drei Männer. Mit dem Radiomoderator Abdu Cebar führe ich ein kurzes Interview. Er ist Araber und hat in Aleppo Maschinenbau studiert. Eigentlich fällt er damit nicht in die Gesprächspartner, die ich für die Dissertation brauche. Aber es führt mir eine gewisse Beschränktheit meines Themas vor Augen: ausgebildet werden diese jungen Medienmacher von erfahrenen kurdischen Journalisten, die der Freiheitsbewegung nahestehen. Selber sind sie aber keine Kurden, sondern Araber. Es wird deutlich, dass es kein in sich geschlossenes „kurdisches“ Mediensystem gibt, sondern es auch um verschiedene journalistische Grundverständnisse geht, jenseits von ethnischer und nationaler Zuschreibung. Das ist ein Punkt, der in der Dissertation diskutiert werden muss.
Den ganzen restlichen Tag geht es von Dorf zu Dorf, wir schauen uns Frauenzentren, örtliche Stadträte und andere Einrichtungen an. Es ist spannend zu sehen, wie schnell eine gewisse Normalität so kurz nach dem Krieg einzieht. Das diese auch brüchig sein kann, wird deutlich, als ich meinen bewaffneten Mitfahrer frage, warum er auf seiner AK-47 eine einzelne Kugel ins Visier geklemmt hat. Seine Antwort: „Falls mich der IS angreift und ich keine Munition mehr habe, dann ist das die letzte Kugel.“ Er formt seine Hand zu einer Pistole, führt sich den Zeigefinger in den Mund und „drückt ab“.

PS: Leider ist das Internet gerade zu schlecht, sodass keine weiteren Fotos online gestellt werden können