Nach zwei Jahren heißt es für mich wieder „Auf zum 25. Farkha-Festival!“ Seit 2011, damals noch als Delegierter der Deutschen Kommunistischen Partei, besuche ich das Festival der Jugend der Palästinensischen Volkspartei (PPP), die sich bis Anfang der 90er Jahre noch KP Palästinas nannte. Dieses Jahr sind wir für die marxistische linke oder als Privatpersonen anwesend. Wir, dass sind acht kurdische, türkische und deutsche AktivistInnen aus Deutschland, eine Art doppelter Internationalismus also. Uns geht es dabei vor allem um die Verbindung verschiedener Widerstandsbewegungen, Erfahrungen sollen ausgetauscht und gegenseitige Solidarität entwickelt werden.
Dieses Jahr feiert das Festival 25-jähriges Jubiläum. Außer während der zweiten Intifada konnte das Treffen immer stattfinden. Und so sind auch dieses Jahr 150 Jugendliche und junge Erwachsene von Dschenin bis Hebron, von Tulkarm über Jerusalem bis nach Jericho und auch aus Israel gekommen, um eine Woche gemeinsam zu arbeiten, diskutieren und feiern.
Doch ein Schritt zurück. Im Flugzeug nach Tel Aviv lese ich „Das Buch der Umarmungen“ von Eduardo Galeano. Viele seiner dort enthaltenen Kurzgeschichten handeln von Ungleichheit und jahrhundertealter Unterdrückung der indigenen Bevölkerung Lateinamerikas. Wie passend. Auch wenn es im Israel-Palästina-Konflikt nicht mehr darum gehen sollte, wer zuerst da war (in der jüngeren Geschichtsschreibung waren dies zumindest die später als arabisch-palästinensisch klassifizierten Bevölkerungsteile). Es sollte um eine zukunftsorientierte Perspektive gehen. Also wie allen dort lebenden Menschen (und den 1948 bis heute von dort vertriebenen) ein gemeinschaftliches, friedliches Zusammenleben ermöglicht werden kann. Mit der jetzigen Verfasstheit des israelischen Staates wird dies kaum möglich sein (Stichwort u.a. das am Tag vor meinem Abflug verabschiedete Nationalitätengesetz). Die PPP tritt für eine Zwei-Staaten-Lösung ein, auch wenn viele GenossInnen sagen, dass dauerhaft eigentlich nur eine gemeinsame Lösung (ein gemeinsamer, binationaler, säkularer Staat) sinnvoll sei. Zusammen mit den kurdischen Freunden, die Teil der Delegation sind, wollen wir auch das explizit antistaatliche Konzept des Demokratischen Konföderalismus diskutieren. Ein Lösungsmodell, das auch für diese Region des Nahen Ostens attraktiv sein könnte.
In der Passkontrolle am Ben Gurion-Flughafen mache ich einen „Fehler“ und stelle mich hinter einer „Person of Colour“ (PoC) an. Während sich links und rechts von mir die Reihen der Wartenden nach und nach vorschieben und irgendwann ganz lichten, wird der Mann vor mir kontrolliert, durchgecheckt und kritisch beäugt. Da ich selber nicht auffallen will, gebe ich irgendwann auf und laufe mit einem schlechten Gewissen, nicht eingeschritten zu sein, zu einem der mittlerweile freigewordenen Schalter. Mit dabei: ein banges Gefühl, dass es mich auch gleich so erwischt. Aber siehe da, das erste Mal nach 11 Jahren (mein erster Israel/Palästina-Aufenthalt war 2007 im Rahmen meines Zivildienstes) werde ich ohne eine einzige Frage durchgewunken. Ich muss nicht in den Verhörraum, ich muss nicht beantworten ob mein Großvater väterlicherseits (Türke, also potentieller „Terrorist“), der 1994 verstorben ist, Kontakte zu „terroristischen Organisationen“ hatte, ich muss nicht für bis zu sieben Stunden auf meine Einreise warten. Während ich, erfreut durch das schnelle und ungewohnte Prozedere, mich auf den Weg zur Gepäckausgabe mache, drehe ich mich noch einmal um. Die PoC wartet immer noch auf das „Ok“ des Grenzbeamten. Unklar, ob es überhaupt kommen wird. So etwas kennt man sonst eigentlich vor allem aus Bayern.
Am nächsten Tag, Samstag, den 21.7.18, geht es nach Jerusalem. Dort treffen wir uns mit einem PPP-Genossen aus Bethlehem, der seit einigen Jahren in Deutschland lebt und der 2013 bereits auf eine Newroz-Delegation des Verbandes der Studierenden aus Kurdistan YXK mitgefahren war. Er berichtet, dass es um den Widerstand gegen die Besatzung in der Westbank nicht wirklich gut stehe: „Früher hatte jedes Haus hier einen Märtyrer oder einen Angehörigen im Knast. Heute hat jede Familie jemanden, der im Ausland lebt.“ Mit diesem kurzen prägnanten Satz, beschreibt er die aktuelle Situation sehr eingänglich. Das Ziel des israelischen Staates, das Leben für die Palästinenser so unerträglich wie möglich zu machen, geht teilweise auf. Immer mehr junge Menschen versuchen die Gegend zu verlassen und woanders ihr Glück zu finden. Damit könnte für Israel auch die demographische Frage gelöst werden. Doch noch ist die Geburtenrate auf palästinensischer Seite höher. Ein gefährlicher Faktor für jemanden, der sich als „jüdischer Nationalstaat“ definiert. Die Kritik des Genossen richtet sich aber vor allem auch gegen die palästinensische Führung, die durch und durch korrupt sei und mit der israelischen Regierung kooperiere. Dagegen häufen sich derzeit die Demonstrationen. Bei einer davon wurde er von einer Tränengaskartusche der palästinensischen Sicherheitskräfte am Unterschenkel getroffen, die Narben verblassen gerade erst.
In Ramallah steigen wir in einen Sammelbus Richtung Salfit, um ins malerisch gelegene Dorf Farkha zu kommen. Auf dem Weg kommen wir an dem bekannten Dorf Nabi Salih vorbei, das für seinen Widerstand bekannt ist. Die Familie von Ahed Tamimi kommt von dort. Die 2001 geborene Palästinenserin wurde im März dieses Jahres zu einer achtmonatigen Haftstrafe verurteilt, weil sie sich gegen israelische Besatzungssoldaten wehrte und diese ohrfeigte. Das Umland des Dorfes wird derzeit nach und nach von einer sich immer weiter ausbreitenden israelischen Siedlung eingenommen. Nicht nur die Tamimis, große Teile des Dorfes protestieren dagegen. Die israelische Armee schießt dabei oft scharf, erst vor zwei Monaten wurde dabei ein junger Mann tödlich getroffen. Sein Haus ist noch immer an den Trauerfahnen zu erkennen.
Nach weniger als einer Stunde Fahrt und gefühlte zehn Hochzeitsgesellschaften am Straßenrand weiter (Juli/August sind beliebte Heiratsmonate), erreichen wir Farkha. Das kleine Dorf liegt auf der Spitze einer Hügelkette, in der Ferne ist bei Sonnenuntergang Tel Aviv und das Meer zu sehen. Ein unerreichbares Ziel für viele Jugendliche auf dem Festival. Sie erhalten oft keine Genehmigung, um die Westbank Richtung Mittelmeer zu verlassen. Im Norden blinken die Lichter Ariels, einer Siedlung die bereits 1978 gegründet wurde. Sie ist völkerrechtswidrig, dennoch leben dort heute 20.000 israelische Siedler auf palästinensischem Boden. Universität, Einkaufszentren und eigene Befestigungsanlagen inklusive. Insgesamt gibt es in der Westbank und Ost-Jerusalem mittlerweile fast 700.000 Siedler.
Als wir aus dem Bus steigen, ist die Freude groß. Viele GenossInnen kenne ich schon seit Jahren, manche saßen zwischendurch im Gefängnis, andere sind nun verheiratet und haben Kinder. Die Eröffnungszeremonie des Festivals beginnt mit einem Dank an alle Spender, die dieses Event jedes Jahr möglich machen. Aus Deutschland sind heuer mehr als 5000€ gespendet worden, ein beachtlicher Betrag (an dieser Stelle an alle SpenderInnen auch noch einmal von mir ein ganz herzliches Dankeschön! Wir hören uns dann nächstes Jahr wieder ?). Im Anschluss an die Eröffnung gibt es eine erste Besprechung für alle TeilnehmerInnen. Es werden einige Regeln erklärt (u.a. Arbeitsdisziplin, Ablauf des Festivals, Boykott israelischer Waren, die den palästinensischen Markt im Alltag überfluten, aber auf dem Festival nicht erwünscht sind). Dieses Jahr werden bereits am ersten Abend Arbeitsgruppen gebildet, die in der ganzen Woche zusammenarbeiten sollen. Unsere Gruppe setzt sich aus AktivistInnen aus Jerusalem, Ramallah, Bremen, Hebron, Nablus und München zusammen. Wir beschließen nach kurzer Erklärung sie nach Sehid Mehmet Aksoy zu benennen. Mehmet Aksoy war ein Genosse und Freund, der nach Rojava ging und sich dort dem Medienteam der Volksverteidigungseinheiten YPG anschloss. Im September 2017 wurde er bei einem Angriff des sogenannten Islamischen Staats in Rakka getötet. Wir arbeiten hier auch, um seiner zu Gedenken.
Nach einer kurzen Nacht geht es am nächsten Morgen (Sonntag, 22.7.18) gleich an die Arbeit. Dieses Jahr stehen verschiedene Dinge an. So soll eine Gesundheitsklinik für die Dorfbevölkerung eingerichtet, ein öffentlicher Platz verschönert, Mauern gebaut und vor allem in der ökologischen Landwirtschaft des Dorfes gearbeitet werden. Die „Sehid Mehmet Aksoy“-Brigade beteiligt sich an den Arbeiten im Öko-Garten. Dort sind bereits Aktivisten der Arbeits- und Lebensgemeinschaft Tamera aus Portugal anwesend, die uns anleiten. Tamera dient dabei als Vorbild für den ökologischen Anbau. Dieser wird als Akt des Widerstandes gegen die israelische Besatzung gesehen: Verbundenheit mit dem eigenen Boden und eine möglichst autarke Lebensweise. Es ist beeindrucken, wie sich das Projekt in den letzten vier Jahren entwickelt hat und wie viel Erfahrung gesammelt wurde. Während der Arbeiten kommen wir sofort auf die Idee, diese ökologische Bewegung mit den landwirtschaftlichen Kooperativen in Rojava für einen Gedankenaustausch in Kontakt zu bringen. Das Interesse ist groß.
Als wir nach getaner Arbeit (immerhin fast 25 Meter Mauer aus Steinen gegen das Abrutschen der Anbaufelder geschichtet) erschöpft auf das Festivalgelände zurückkehren, wehen am Eingang neben Che-, Kuba-, PPP- und Palästina-Fahnen nun auch die Fahnen der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPJ/YPJ als Zeichen der Solidarität. Zwei Genossen der PPP haben sie aufgehängt. Es herrscht eine grundsätzliche Sympathie mit den Entwicklungen in Nordsyrien, auch wenn bezüglich der taktischen Zusammenarbeit mit den USA immer wieder nachdenkliche Fragen auftauchen. Wir werden noch genug Zeit haben, darüber zu diskutieren.
Anmerkung: Dies ist der erste Artikel in einer Reihe von Beobachtungen vom Farkha-Festival in Palästina, die zuerst auf www.kommunisten.de veröffentlicht werden. Die AutorInnen wechseln und somit auch die Eindrücke. Die Vielfalt wird bereichernd sein. Auch die Beiträge der anderen AutorInnen werden auf www.kerem-schamberger.de zweitveröffentlicht werden. Alle Bilder dieses Blogbeitrages wurden vom Autoren geschossen.
Kerem Schamberger