Sichtbar machen, was sonst niemand sieht

Ich habe mit Refik Tekin über Prinzipien des Journalismus gesprochen, über die Arbeit in Kriegsgebieten und über die Verantwortung als kurdischer Journalist. Tekin wurde am 20. Januar 2016 in der kurdischen Stadt Cizre von Sicherheitskräften angeschossen. „In der Türkei ist mittlerweile jeder, der nicht auf der Seite der Regierung steht, ein Terrorist“ Interview von Kerem Schamberger Refik Tekin ist ein bekannter kurdischer Fotograf, Kameramann und Journalist. Er hat an der Salahaddin-Universität in Erbil Journalismus studiert und arbeitete seit 2012 für verschiedene Medien der Türkei, darunter auch für den Nachrichtensender IMC. Dieser galt als Stimme der kurdisch-türkischen Friedensgespräche (Dezember 2012 bis Juli 2015). Am 29.September 2016 wurde der Sender vom türkischen Rundfunkrat verboten. Seit sieben Monaten lebt Tekin in Deutschland, weil die türkische Justiz ihn unter Terrorvorwürfen angeklagt hat. Er arbeitet mittlerweile in Köln für den oppositionellen Fernsehsender Arti TV. Außerdem hat er mit seiner Kollegin Esra Gültekin Bilder für eine Ausstellung mit dem Titel „Fotografie im Ausnahmezustand“ beigetragen. Das Gespräch ist am 5. Dezember 2018 im Kontext meiner Dissertation zum kurdischen Mediensystem entstanden. Ein Schwerpunkt war dabei die Zeit der Ausgangssperren in zahlreichen kurdischen Städten von Herbst 2015 bis Frühjahr 2016. Als die Demokratische Partei der Völker (HDP) im Juni 2015 mit 13 Prozent der Wählerstimmen in das türkische Parlament einzog und damit eine Alleinherrschaft Erdogans verhinderte, brach die AKP die Friedensgespräche ab und ging zu einer Kriegspolitik über, die tief in der fast 100-jährigen Geschichtedes türkischen Staates wurzelt. In vielen kurdischen Städten wurden Ausgangssperren erlassen, in Cizre dauerte sie 79 Tage. Insgesamt wurden laut UN-Angaben mehr als 300.000 Menschen vertrieben und tausende getötet. Im Gespräch mit Refik Tekin geht es vor allem um die Ereignisse des 20. Januar 2016 in Cizre. Türkische Sicherheitskräfte eröffneten damals das Feuer auf eine Gruppe von Zivilisten, die verletzte und getötete Personen aus den belagerten Stadtteilen bergen wollten. Zwei Menschen starben, ein Dutzend wurde verletzt. Tekin war dabei und filmte. Eine Kugel zertrümmerte sein rechtes Schienbein. Bis heute kann er nicht richtig laufen. Im April 2016 erhielt er für seine Aufnahmen den Metin-Göktepe-Journalismus-Preis. Da seine Geschichte bisher in deutschen Medien fast nicht erzählt wurde, wird sie hier (leicht gekürzt) veröffentlicht. Zu Beginn: Was ist dein wichtigstes Ziel als Fotograf, Kameramann und Journalist? Tekin: Mein größtes Ziel ist erst einmal die Wiederherstellung meiner Gesundheit. Ich kann immer noch nicht wie ein gesunder Mensch laufen. Ich kann mich nicht schnell bewegen. Ich kämpfe derzeit darum, wieder gesund zu werden und die Metallplatte in meinem Bein zu entfernen. Aber natürlich hat es einen Grund, warum ich ein solches Ziel verfolge: Ich will wieder berichten, in Kriegsgebieten, auf den Demonstrationen unserer Menschen, die mit Tränengas angegriffen werden. Ich will an gesellschaftlichen Aktivitäten teilnehmen. Denn es ist ja so: In der Türkei ist der Journalismus extrem polarisiert. Das ist sehr hässlich, aber so ist es nun mal. Das sieht man auch bei gesellschaftlichen Protesten. Ein Teil der Journalisten steht auf der Seite der Polizei und der andere Teil an der Seite des Volkes. Wer auf der Seite der Polizei steht, sieht alles nur durch ihre Augen. Doch wenn ein demokratischer Protest durchgeführt wird, musst du genau wissen, auf welcher Seite du stehst. Es gibt keine Mitte. Entweder treffen dich dann die Steine oder die Tränengasgranaten. Man steht immer auf einer Seite. Wenn du auf der Seite des Systems stehst,kannst du nur mit ihm laufen. Wenn du die Stimme eines Volkes, einer Öffentlichkeit bist, ihre Augen, ihr Nachrichtenkanal, dann musst du sehr nah dran sein. Robert Capa sagte einst: Um das beste Foto zu machen, muss man nah dran sein. Deshalb sind seine Kriegsfotos in der ganzen Welt bekannt. Er war unzählige Male verletzt und hat dafür sogar sein Leben gegeben. Du selbst bist am 20. Januar 2016 verletzt worden. Magst du etwas von diesem Tag erzählen? An diesem Tag galt nach wie vor die Ausgangssperre, die am 14. Dezember 2015 erlassen wurde. Wir waren noch einige Tage vor dem Erlass dorthingefahren, um über Lehrer zu berichten. Das Direktorat des Bildungsministeriums in Sirnak hatte an alle Lehrkräfte eine SMS geschickt. Sie wurden aus der Stadt herausbeordert. Als wir ankamen, erließ das Gouverneursamt direkt die Ausgangssperre. Wir entschieden uns, dort zu bleiben, denn es wäre nicht richtig gewesen, die Menschen alleine zu lassen. Das hat für dich als Journalist einen Nachrichtenwert. Jeder Journalist hätte berichten wollen, was dort damals passierte. Das ist der Zweck und das Ziel von Journalismus. Aber außer uns war niemand da. IMC war da. Ja, IMC war da. JINHA (kurdische Frauennachrichtenagentur, mittlerweile verboten), DIHA (kurdische Nachrichtenagentur, ebenfalls mittlerweile verboten) und einige örtliche Journalisten waren da. Sonst niemand. Später kamen dann Journalisten. Darüber werde ich gleich noch sprechen. Wir haben über das tägliche Leben berichtet, weniger über die bewaffneten Auseinandersetzungen. Am 20. Januar 2016 bekamen wir die Information, dass Ahmet Tunc, der damalige Ko-Vorsitzende des Volksrates der Stadt, und andere im Cudi-Viertel verletzt worden sein sollen. Seine Verwandten und Bekannten versammelten sich um den HDP-Abgeordneten Faysal Sariyildiz (der damals auch in der Stadt war und mittlerweile ebenfalls im Exil in Deutschland lebt – K.S.), um die Verletzten und Toten zu bergen. Es gab zudem eine entsprechende einstweilige Verfügung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Allerdings fuhren die Sanitäter nicht hin, um sie retten. Also machte sich eine Gruppe von Verwandten um den Abgeordneten Sariyildiz auf den Weg, um sie auf eigene Faust zu bergen. Sie riefen zuvor den zuständigen Präfekten und die Polizei an. Diese gaben den Abgeordneten die Erlaubnis, dass sie mit erhobener weißer Fahne gehen könnten. Also machten sie sich auf den Weg. Ich begleitete sie mit meiner Kamera. In Cizre gibt es die Nusaybin-Straße, die die Stadt in zwei Teile teilt. Wir liefen also dort mit erhobenen weißen Fahnen in Richtung Cudi-Viertel. Dabei kamen wir an einem Panzer und einem Polizeifahrzeug vorbei. Niemand warnte uns. Zu der Zeit lief deine Kamera schon? Ich hatte sie nicht einen Moment ausgemacht. Selbst als ich sie in der Hand trug, lief sie. Denn es war nicht klar, was passieren würde. Wir sind also hingegangen, haben die Verletzten und die Leichen eingesammelt. Und als wir gerade auf dem Rückweg waren, wurde auf uns geschossen. Erst schossen sie eine Salve über unsere Köpfe hinweg. Es war ein zweispuriger Weg, und als wir gerade auf der Hälfte waren, schossen sie wieder auf uns. Manche warfen sich sofort zu Boden. Ein Teil versuchte, gebückt wegzurennen. Das tat ich auch und filmte dabei. Eine Kugel traf mich am Bein und ich fiel hin. Aber das ist nicht das eigentliche Thema. Das was danach passierte, darum geht es eigentlich. Ich war getroffen, um mich herum waren verletzte Menschen, alles war voll Blut. Ich filmte weiter. Seitdem stelle ich mir immer wieder eine Frage: Warum hast du weiter aufgenommen? Bei all den Schmerzen. Und? Wie beantwortest du diese Frage heute? Ich dachte erst daran, nicht weiter aufzunehmen, denn sie konnten jeden Moment kommen und die Kamera beschlagnahmen. Aber das passierte nicht. Ich dachte auch daran, dass es in den 1990er Jahren keinen wirklichen Journalismus und keinen richtigen Nachrichtenkanal in Kurdistan gab. Aber dort war es so, dass Jahre später Soldaten an die Öffentlichkeit traten und zugaben, dass sie dieses oder jenes Dorf angezündet oder diese oder jene Dorfbewohner erschossen hatten. Sie meldeten sich, weil sie Gewissensbisse hatten. Und ich dachte mir jetzt in dieser Situation, dass diese Aufnahmen vielleicht in einigen Jahren von Soldaten oder Polizisten veröffentlicht werden könnten, weil sie ebenfalls ein schlechtes Gewissen haben. Dass sie zugeben: Wir haben diese Menschen erschossen. Aber bevor die Soldaten zu uns kommen konnten, hatte ein Abgeordneter bereits Kranken- und Leichenwagen gerufen. In diesem Moment konnte ich die Kamera an Freunde übergeben, und sie trugen mich in einen Krankenwagen. Die wirkliche Folter fing dann später an. Das Büro des Präfekten war zu einem militärischen Hauptquartier aufgerüstet worden. Der Krankenwagen fuhr genau dort hin. Sie haben uns aus dem Wagen gezogen und über den Boden geschleift. Im verletzten Zustand? Ja. Dann haben sie uns getreten und beschimpft. Ich sagte zu ihnen, dass ich Journalist sei. Mein Presseausweis hing sogar um meinen Hals. Sie rissen ihn nur ab und schrien: Ihr seid alle Terroristen! Schau uns gefälligst nicht an! Und so schlugen sie uns unter wüsten Beschimpfungen weiter. Das war aber noch nicht alles. Das Krankenhaus war eigentlich nur 90 Sekunden entfernt, aber sie brachten uns woanders hin. An eine Straßenkreuzung Richtung Sirnak, neben eine Brücke, die über den Dicle-Fluss führt. Dort ließen sie uns warten. Neben mir war noch ein weiterer Verletzter. Er sagte zu uns: Macht euch auf alles gefasst. Sie werden uns hier exekutieren. Wir warteten also. Mittlerweile hatten erste Fernsehsender berichtet, dass ich angeschossen worden war. Wie war diese Nachricht aus Cizre herausgekommen? In der ursprünglichen Gruppe befand sich Saadet Yildiz, eine Reporterin von IMC. Sie rief den Sender an und berichtete, was geschehen war. Sie war nicht verletzt worden, weil er sich gleich zu Beginn flach auf die Straße geworfen hatte. Als diese Nachricht also bekannt wurde, kam ein Funkspruch. Die Situation habe sich verändert. Sie fuhren uns zum Krankenhaus. Sie konnten euch also nicht exekutieren, weil sich bereits eine Öffentlichkeit gebildet hatte? Genau, in diesem Moment. Denn es gab keinen anderen Grund, warum sie uns überhaupt an diese Straßenkreuzung gefahren hatten. Wir waren zuvor in der Stadtmitte und sie brachten uns von dort an einen Ort, an dem niemand war. Die Straßen waren ja alle gesperrt. Wir wurden dann also zum Krankenhaus gefahren. In der Einfahrt befanden sich lauter Soldaten. Sie machten die Türen des Krankenwagens auf. Sofort fingen sie an zu filmen und ‚Terroristen‘ zu rufen. Sie umringten uns und fingen an uns zu schlagen. Aber du lagst doch auf einer Liege? Nein, ich saß in einem Rollstuhl. So kamen wir ins Krankenhaus,und auch dort war alles voll mit bewaffneten Soldaten. Die Erstbehandlung fand dort statt. Es waren alles Krankenpfleger, die an ihren Kitteln Abzeichen aus Ankara und Kocaeli trugen. Sie waren zwischen 45 und 50 Jahre alt. Also Personal, das dort sonst nicht war. Sie waren extra nach Cizre gebracht worden. Sie rissen mein Bein hoch und runter, warfen es hin und her, damit es besonders schmerzte. Dabei beschimpften auch sie mich. Nach der Erstbehandlung wurde ich nach Mardin gebracht. Dort sollte ich in Polizeigewahrsam genommen werden, also wartete die Polizei ständig vor meinem Krankenzimmer und ließ niemanden hinein. Nachdem mein Bein operiert worden war, wurde ich vernommen und anschließend freigelassen. Wie viele Menschen starbenan diesem Tag? Zwei. Zwölf weitere wurden verletzt. Insgesamt waren wir so 35 bis 40 Menschen. Wie kamen denn in diesen Tagen der Ausganssperre andere Journalisten nach Cizre? Das Gouvernement von Sirnak hat alle Journalisten, die sich beworben hatten, gesammelt, in ein gepanzertes Fahrzeug gesetzt und nach Cizre gefahren. Einige dieser Journalisten riefen mich an und fragten, wo ich denn sei und dass sie nun auf dem Weg zu mir wären. Aber sie brachten die Journalisten nur in abgelegene Viertel, um sie gute Fotos mit den Soldaten machen zu lassen. Anschließend wurden sie wieder zurückgefahren. Weißt du, was diese Menschen in diesem Moment verraten haben? Ihren eigenen Beruf, die Prinzipien des Journalismus. Sie ziehen eine Stahlweste an, fahren mit gepanzerten Fahrzeugen des Militärs in die Stadt und berichten groß, dass sie nun am 32. Tag der Ausgangssperre in der Stadt seien und von dort berichten würden, mitten aus dem Krieg. Doch sie waren nur in abgelegenen, ruhigen Teilen der Stadt, in denen es gar keine Auseinandersetzungen mehr gab. Also war das nur Propaganda für das Militär? Genau, sie haben so ihren eigenen Beruf verraten. So etwas geht nach den Prinzipien des Journalismus nicht. Aber es gibt eben leider auch einen prinzipienlosen Journalismus. Gibt es zu den Ereignissen des 20. Januar einen Prozess, zum Beispiel vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte? Ich habe in der Türkei ein Prozess angestrengt, um denSchützen identifizieren und bestrafen zu lassen. Ihre Antwort war bisher nur, dass Mitglieder einer terroristischen Organisation kein Recht hätten, Strafanzeigen zu stellen. Noch läuft der Prozess aber formell weiter, und deshalb können wir uns noch nicht an den Europäischen Gerichtshof wenden. Wie es scheint, will der türkische Staat nun auch gegen mich einen Prozess anstrengen. Mit welchen Vorwürfen? Verschiedenste. Zum Beispiel heißt es zwar, dass es eindeutig sei, dass ich als IMC-Journalist gearbeitet habe, dieser Sender aber nur ein verlängerter Arm der PKK sei und ich dort Terrorpropaganda gemacht und der PKK geholfen hätte. Sie äußern sich auch zum 20. Januar 2016, als die Toten geborgen und die Verletzten ins Krankenhaus gebracht werden sollten. So hätte ich an demTag versucht, Mitglieder einer terroristischen Organisation vor den Sicherheitskräften zu schützen. Das ist völlig aus der Luft gegriffen, denn die Soldaten hatten ja sowieso alles in Cizre umstellt. Sie machen diese Vorwürfe nur, um uns zu terrorisieren. In der Türkei ist mittlerweile jeder, der nicht auf der Seite der Regierung steht, ein Terrorist. Das trifft nicht nur aufJournalisten zu. Wieso machst du denn nach solch traumatischen Erlebnissen als Journalist weiter? Die Realität ist doch, dass ich ein Individuum aus der kurdischen Gemeinschaft bin. Diese Menschen leben immer unter großen Schwierigkeiten. In den 1990er Jahren wurden ihre Dörfer angezündet. Unsere Dörfer wurden ebenfalls abgebrannt, wir mussten unter Zwang migrieren. Wir hatten die Wahl, entweder Dorfschützer zu werden oder die Gegend zu verlassen. Als wir dann in die nächstgrößere Stadt kamen, waren wir mit Assimilierung konfrontiert. Außer Türken durften wir nichts Anderes sein. Wenn man all das ständig als gesamte Gesellschaft erfährt, dann ist die Tragik, die man als einfaches Individuum erlebt, kein Grund, mit allem aufzuhören. So einen Luxus können wir uns nicht leisten. Als wir uns für diesen Beruf entschieden haben, wussten wir, was auf uns zukommen kann. Also dass wir verletzt oder sogar getötet werden könnten. Wir führen den Kampf, diejenigen sichtbar zu machen, die sonst von niemandem gesehen werden. Wir wollen ihre Stimme, ihr Auge und ihr Ohr sein. Deshalb kann ich mit diesem Beruf nicht einfach aufhören. Nur weil ich einmal verletzt worden bin. Ich würde sonst meine eigenen Werte, mich selbst verraten. Vor sieben Monaten warst du gezwungen, nach Deutschland zu gehen. Wie geht dein Leben als Journalist hier weiter? Ich mache hier einen Journalismus, von dem ich nie im Leben gedacht hätte, dass ich ihn machen könnte. Ich sitze an einem Tisch und arbeite von dort aus. Eigentlich kann ich so etwas überhaupt nicht. Aber ich habe derzeit keine Alternative. Denn entweder ist man im Feld und berichtet von dort oder man arbeitet vom Büro aus. Letzteres trifft derzeit auf mich zu, aber auch nur, um meine Hoffnungen für ein Morgen aufrechtzuerhalten. Denn ich will nicht mit dem Journalismus aufhören. Vielleicht dauert es noch ein oder zwei Jahre, bis meine Gesundheit es zulässt. Du willst also nach Kurdistan zurückkehren? Auf jeden Fall. Foto: Kerem Schamberger Empfohlene Zitierweise (von Originalveröffentlichung) Kerem Schamberger: Sichtbar machen, was sonst niemand sieht. In: Michael Meyen (Hrsg.): Medienrealität 2018. https://medienblog.hypotheses.org/4635 (Datum des Zugriffs)