Der gefährliche Öcalan – Buchrezension

Diese Rezension erschien zuerst in einer gekürzten und leicht überarbeiteten Form auf www.kritisch-lesen.de

Abdullah Öcalan: Die kapitalistische Zivilisation. Unmaskierte Götter und nackte Könige. Manifest der demokratischen Zivilisation. Band 2. Köln: Internationale Initiative 2019.

Der zweite von fünf Teilen „Manifest der demokratischen Zivilisation“ Abdullah Öcalans ist erschienen. Nicht mehr im kleinen Mezopotamien-Verlag, wie noch der erste Band, sondern bei Unrast. Immerhin. Doch: Bei ersterem ginge das auch gar nicht mehr. Der Mezopotamien Verlag wurde am 12. Februar 2019 zusammen mit der Musikgesellschaft MIR Multimedia per Anordnung von Innenminister Seehofer als „Teilorganisation der 1993 in Deutschland verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK)“ geschlossen und verboten. Tausende Bücher waren schon im Jahr zuvor beschlagnahmt worden. Nicht nur Öcalan, sondern auch Chomsky, sowie kurdische Kinder- und Sprachbücher. Ein massiver Einschnitt in die Freiheit des geschrieben Wortes, der bundesweit nur für wenig Aufregung sorgte. Genauso wie das nun erfolgte Verbot. Die Terror-Keule wirkt noch immer. Die Schriftstellerin Mely Kiyak (2018) schrieb im Anschluss an die erste Durchsuchung in ihrer Theaterkolumne: „Adolf Hitler darf man lesen. Aber Öcalans Theorien zur demokratischen Konföderation nicht“.

Doch nun geht es wieder, dank Unrast und der internationalen Initiative „Freiheit für Abdullah Öcalan“, die die Übersetzung seiner Werke organisiert. Bereits 2017 erschien sein erster Band „Zivilisation und Wahrheit“, den ich unter der Überschrift „Der andere Öcalan“ rezensierte (Schamberger, 2017). Jetzt also die Überschrift „Der gefährliche Öcalan“. Warum? Dazu später mehr. Den zweiten Band des „Manifests“ gibt es nun zum ersten Mal auf Deutsch. 2017 war er auf Englisch erschienen. Geschrieben hat Öcalan sein Opus Magnum bereits vor mehr als zehn Jahren, zwischen 2008 und 2010. Über 2000 A4-Seiten füllte der seit 1999 in Isolationshaft sitzende Gründer der kurdischen Freiheitsbewegung in diesen Jahren. Ohne Computer, ohne Internet, ohne dauerhaften Zugang zu Büchern. Oft gezwungen aus dem Kopf zu zitieren. Es ist erstaunlich, dass Öcalan trotz dieser erschwerten Bedingungen ein Werk auf einem theoretisch solch anspruchsvollem Niveau geschaffen hat. Ein Werk, das immer wieder auf aktuelle Diskussionen in der weltweiten Linken Bezug nimmt.

Das Buch gliedert sich in fünf Teile. Erst geht Öcalan auf sein Politik-, Philosophie- und Wissenschaftsverständnis ein. Dann folgt eine Beschreibung des Kapitalismus, der für Öcalan das Gegenteil von Wirtschaft an sich (S. 158 – 165) und vor allem mit Herrschaft verbunden ist. Im dritten Teil geht es um den Nationalstaat, den Öcalan als modernen Leviathan bezeichnet. Im vierten Teil wird die Verbindung von beidem, Nationalstaat und Kapitalismus, hervorgehoben (S. 317) und vor allem auf die Finanzialisierung des Systems ab Mitte der 70er Jahre („Kommandant Geld“, S. 329) eingegangen. Im fünften und letzten Teil geht es um mögliche Kompromisse zwischen Nationalstaat, Kapitalismus und seiner Idee von demokratischer Zivilisation. Besonders hier wird der nahöstliche Blick des Theoretikers deutlich, der weniger auf unüberbrückbare Antagonismen schaue, sondern ein „nicht-dualistisches Denken“ (S. 21) pflege, wie die Autorin des Vorworts, Radha D’Souza, die als Rechtswissenschaftlerin in Westminster lehrt, hervorhebt. Es sei eine „Philosophie der Vielseitigkeit“ (ebd.), die ihm manche Marxisten als Abkehr von der streng dialektischen Methode vorwerfen könnten.

Was lässt die Feder seines geschriebenen Wortes also so gefährlich werden, dass sie abgeschnitten werden muss indem zum Beispiel ein Verlag mit seinen Büchern in Deutschland verboten wird? Wer erwartet im zweiten Band des „Manifests“ eine Auseinandersetzung mit der PKK, einen Aufruf zum bewaffneten Kampf oder auch nur das Wort „Kurdistan“ zu finden, der wird vergeblich suchen. Um nichts davon geht es. Wie ein roter Faden zieht sich stattdessen eine generelle Staats- und Kapitalismuskritik durch das Buch, die auch auf den Westen anwendbar ist: „Auf der einen Seite finden Dinge, die in verrückten und überflüssigen Bereichen zu Bergen aufgehäuft werden, keinen Markt, verlieren so ihre Eigenschaft als Verbrauchsgüter und werden dem Verrotten überlassen, auf der anderen Seite gibt es Menschen, die wegen mangelnder Kaufkraft unter Hunger und Krankheiten leiden, sowie Armeen von Arbeitslosen! Kein Krieg und keine Naturkatastrophe hat je in der menschlichen Gesellschaft den Schaden angerichtet, den die Kapitalismus genannte Wirtschaftsformation verursacht hat“ (S. 165).

Solche Ideen und Positionen sind gefährlich. Nicht nur für den türkischen, sondern auch für den deutschen Staat. Vor allem dann, wenn sie, frei nach Marx, zur materiellen Gewalt werden und die Massen ergreifen. Wie in Rojava, wo derzeit der sogenannte Islamische Staat als territoriale Entität in seinen letzten Zügen liegt und Kämpferinnen der Frauenverteidigungseinheiten mit Öcalan-Fahnen in der Hand am 8. März das von ihnen erkämpfte Ende des Kalifats feierten. Öcalan glaubt an die Möglichkeit der Veränderung: „Die Gesellschaft kann ändern, was sie selbst konstruiert hat, und neue Konstruktionen verwirklichen. (…) Gesellschaftliche Wirklichkeiten sind konstruierte Wirklichkeiten und weder natürlich noch gottgegeben“ (S. 334). In Rojava wird deutlich, dass dies unter schwersten Bedingungen gelingen kann. Auch das ist gefährlich für diejenigen, die den Status Quo der gesellschaftlichen Machtverteilung erhalten wollen.

In diesem Zusammenhang geht Öcalan noch weiter und appelliert, den „Staat in Zusammenhang mit Macht zu definieren“ (S. 225), der dafür da sei das von der Gesellschaft produzierte Mehrprodukt zu „entwenden“ (S. 227). Seine Kritik ist dabei historisch angelegt, hergeleitet im Sinne Braudels „longue durée“. Insbesondere im zweiten Teil, betitelt mit „Der Todfeind der Wirtschaft“ (Unterkapitel C), geht er wieder auf die Sesshaftwerdung des Menschen und auf die Bildung von Städten als Vorläufern von Staaten in der „sumerischen Zivilisation“ (S. 169) ein. Eine Argumentationslinie, die man bereits aus dem ersten Band kennt. Öcalan selbst bittet wegen der Wiederholung „um Verzeihung“ (S. 166). Er braucht diese aber, um aus der Geschichte heraus den modernen Nationalstaat und den damit zusammenhängenden Kapitalismus zu analysieren. Eine kritische Untersuchung des Nationalstaats ist ein Ansatzpunkt, der für viele deutsche Linke in der theoretischen Diskussion eher unterbeleuchtet ist und mehr Aufmerksamkeit braucht. Denn für den Spiritus Rector der kurdischen Freiheitsbewegung stellt der Nationalstaat „die Einheit der Machtinstrumente“ (S. 225) dar, die sich im Kapitalismus herausgebildet habe: „Der Staat (…) organisiert sich über der Gesellschaft mit Instrumenten von Ideologie bis Zwang als Institution des Überbaus und macht sich zum Monopol“ (S. 227). Nationalismus sei ein automatisches Produkt des Nationalstaates und wirke als Religion der Moderne (S. 245). In letzter Konsequenz führe die nationalstaatliche Idee zu Faschismus, weil die Grundlagen dafür schon in jeglicher Form des Nationalstaats angelegt seien, so Öcalan (S. 222 & S. 233). Für ihn sind Vorkommnisse wie das Verbot des Mezopotamien-Buchverlags deshalb „normale“ Verhaltensweisen des Nationalstaats an sich, dessen Aufgabe eben darin bestehe Macht auszuüben. Eine Macht, die sich bis in alle Poren der Gesellschaft, bis zum letzten Individuum ausbreite (S. 278).

Dieses Zusammenspiel von (National-)Staat, Macht und Kapitalismus ist das Hauptanliegen des fast 400 Seiten langen zweiten Bandes. Dem Staat stellt Öcalan dabei die Begriffe der „Gesellschaft“ und der „Demokratie“ als „ein völlig anderes System“, als „eine nicht-staatliche Regierungsform“ (S. 230) gegenüber: „Demokratie und Staat sind wesensverschieden“ (ebd.) Wobei die Bedeutung von Demokratie als Gegenstück zum Staat im Verlaufe des Buches recht undeutlich bleibt und zu wenig konkretisiert wird. Öcalan kritisiert (zu Recht), dass aus der Marx-Exegese entstandene Konzept der „Diktatur des Proletariats“ (S. 367), weil es nur auf die Erlangung von Macht und nicht auf die Demokratisierung der am Prozess beteiligten Individuen gerichtet war. Doch: auch in demokratisch organisierten Gesellschaften kommt es zur Ansammlung von (zumindest informeller) Macht. Wie wird diese kontrolliert? Wie werden monopolistische Kapitaleigner freiwillig davon überzeugt, dass ihre Konzentration des Eigentums nicht der Gesamtheit dient? Nur durch Bildung und eigene Einsicht in die Notwendigkeit? Das mag auf Gesellschaften zutreffen, in denen der Kapitalismus noch nicht so tief Fuß gefasst hat, in denen es keine monopolisierte Industrie gibt, wie dies in Teilen des Nahen und Mittleren Ostens der Fall ist (besonders in Nordsyrien/Rojava). Doch wie sieht es mit den Zentren aus, also zum Beispiel in Europa? Dies wären mögliche Diskussionspunkte einer Linken in Deutschland, die nicht nur solidarisch sein, sondern auch lernend und lehrend gemeinsam weiterkommen will. Mit diesem Buch ist die Zeit dafür gekommen, die Diskussion aufzunehmen und weiterzuführen.

Es geht Öcalan in seinem Werk um die Wiederentdeckung und -aneignung der eigenen Geschichte. Also der Geschichten der Völker des Nahen und Mittleren Ostens, der doch auch nur so heißt, weil wir ihn von Europa aus betrachten. Schindler (2018) schlägt hingegen die Verwendung des Begriffes „Westasien“ vor und berücksichtig dabei vielleicht sogar schon die zukünftige hegemoniale Stellung Chinas. Öcalan selbst zieht bei seiner Analyse viele westliche Denker zu Rate: Braudel, Bookchin, Marx, Weber, Adorno, Gramsci, Nietzsche und Foucault, um nur eine Auswahl zu nennen. Sie alle spielen im zweiten Band eine gewichtige Rolle. Ein abschließendes Namens- und Literaturverzeichnis hätte dabei die Nachvollziehbarkeit erhöht. Und sie alle werden von Öcalan differenziert betrachtet und kritisiert. Insbesondere Marx und die entsprechende Genese des großen Vordenkers des Sozialismus stehen im Fokus der Kritik, wie auch schon im ersten Band des „Manifests der demokratischen Zivilisation“. Der Ökonomismus und die Fixiertheit auf Staat und Macht an sich seien die Grundfehler des Marxismus, auch wenn Öcalan zugibt, Marx „nicht intensiv studiert“ (S. 214) zu haben. Für Öcalan ist die Triebkraft der Geschichte nicht ausschließlich und primär der Klassenkampf. Heute begreifen die kurdische Freiheitsbewegung und ihr Vordenker „Geschichte als Geschichte der Konflikte zwischen der staatlichen, urbanen, patriarchalen Zivilisation und den kommunalen Widerständen dagegen“, wie Öcalan-Übersetzer Reimar Heider in einem Beitrag zur „Bedeutung von Marx im kurdischen Befreiungskampf“ (2018) schreibt.

Im ganzen Buch finden sich Ansätze, die für aktuelle Diskussionen in der westlichen Linken hochaktuell sind. So zum Beispiel wenn Öcalan über den „Gegenwert der Arbeit“ schreibt, „die eine Mutter aufbringt, bis sie den Proletarier, den sie neun Monate lang in ihrem Leib getragen hat, unter Tausend Mühen zu einer Arbeitskraft macht“ (S. 87), Stichwort: Care-Revolution und die gesellschaftliche Bedeutung unentlohnter Hausarbeit. Oder wenn es um die Kritik an der Konsumgesellschaft geht und „die fast schon kultische Verehrung von Gegenständen (…) als moderne Götzenanbetung“ (S. 243). Auch den Standortnationalismus der deutschen Sozialdemokratie im Bündnis mit „ihrem“ Nationalstaat spricht er an, wenn er von einer „Absorption durch den Nationalstaat“ (S. 282/283) spricht. Beeindruckend ist, wie sich bei ihm bereits vor zehn Jahren die Debatte um die Rolle des Nationalstaats im Zeitalter des globalisierten Kapitalismus wiederspiegelt: „Auch Kapitalismus, der zu einem Weltsystem geworden ist, kann das nationalstaatliche Monopol nicht endlos unterstützen. Nationalstaatliche Monopole, die zur Abschottung tendieren, werden zum Hindernis für diejenigen Monopole, die global agieren wollen“ (S. 344). Demgegenüber beschreibt er den Aufstieg rechter und rechtsextremer Parteien als „Reaktionen auf den Globalismus des Finanzzeitalters; es sind ideologisch-politische Vorstöße, die in ihren religiösen und rassistischen Varianten eine stärkere Abschottung des Nationalstaates bezwecken“ (S. 346). Das Unterkapitel „Die Geschichte des jüdischen Volkes – Im Gedenken an den Völkermord“, könnte im deutschen Rahmen für Diskussionen sorgen, weil Öcalan darin den jüdischen Nationalismus als „Urahn aller Nationalismen und Nationalstaaten“ (S. 258) ausmacht und gleichzeitig „entschieden für einen Platz der Juden im Mittleren Osten“ (S. 260) eintritt.

Kiyak (2018) kündigte in ihrer zu Beginn erwähnten Theaterkolumne am Ende des Textes folgendes an: „Ich plane öffentlich aus Abdullah Öcalans Schriften zu lesen (…). Bleibt nur die Frage: Wer wird mich als Erstes von der Bühne tragen? Der türkische Geheimdienst oder die deutsche Polizei?“ Mit dem zweiten Band des „Manifests der demokratischen Zivilisation“ hätte nun nicht nur sie die Gelegenheit dazu, ihr Versprechen umzusetzen*. Es lohnt sich.
2020 soll Öcalans dritter Band in der Reihe des „Manifests der demokratischen Zivilisation“ erscheinen. Die „Soziologie der Freiheit“. Dann folgt hoffentlich eine Rezension unter der Überschrift „Der freie Öcalan“, um mit ihm selbst in Freiheit über seine Theorien zu diskutieren und so gemeinsam Vorwärts zu kommen.

Rezension von Kerem Schamberger

* In München wird Öcalans neues Buch am 13. Mai um 20 Uhr am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung vorgestellt und diskutiert, mit besonderem Fokus auf Öcalans implizite Medientheorie. Weitere Informationen hier.

 

Literaturverweise:

Anselm Schindler: Die Strategie der Rose: Kurdistan und der Krieg um Westasien. 2018. Münster: Unrast.

Kerem Schamberger: Der andere Öcalan. Rezension zu Abdullah Öcalan: Zivilisation und Wahrheit. Maskierte Götter und verhüllte Könige. Manifest der demokratischen Zivilisation. Band 1. Köln: Internationale Initiative 2017. In: Michael Meyen (Hrsg.): Medienrealität 2017. https://medienblog.hypotheses.org/315 (11.03.19)

Mely Kiyak: Hitler erlaubt, kurdisches Grammatikbuch verboten. In: Kiyaks Theater Kolumne 2018. http://kolumne.gorki.de/kolumne-88/ (11.03.19)

Reimar Heider: Die Bedeutung von karl Marx im kurdischen Befreiungskampf. In: Kurdistan Report 2018. http://www.kurdistan-report.de/index.php/archiv/2018/61-kr-199-september-oktober-2018/742-die-bedeutung-von-karl-marx-im-kurdischen-befreiungskampf (11.03.19)