Kommunikationswissenschaft im Sozialismus – ein Reisebericht aus Kuba

„Kommt nach Kuba und sprecht dort über das deutsche und kurdische Mediensystem“, schlug unser Kollege Dasniel Olivera Pérez im Sommer auf der IAMCR-Tagung in Madrid vor. Was als Schnapsidee begann, wurde aufregende Realität. Anfang Dezember waren wir, Michael Meyen und ich, in Havanna und im Provinzzentrum Matanzas, um mit kubanischen KW-Studierenden über die Herausforderungen der Medialisierung und des Internets zu diskutieren. Die Stadt-Land-Unterschiede waren greifbar.

Der Eingang zur Fakultät – noch mit „Bohemia“-Beschriftung

Die Facultad de Comunicación an der Universität Havanna sitzt in der früheren Redaktion der Bohemia, Kubas ältester Zeitschrift (gegründet 1908). Die Fakultät hat drei Abteilungen: Journalismus, Soziale Kommunikation und Informationswissenschaft. Insgesamt gibt es hier mehr als 1500 Studierende im Haupt- und Nebenfach. Eine ganze Reihe davon Fernstudenten aus anderen Teilen des Landes, die sich über Videovorlesungen weiterbilden können. Anders als bei uns in München spielt die Praxis eine große Rolle. Die Ausstattung dafür ist perfekt. Gleich neben der Mensa gibt es ein Fernseh- und Radiostudio, ausgestattet mit modernster Technik. Was die Studierenden dort produzieren, wird auch in den fünf landesweiten Fernsehsendern gesendet oder in den sechs nationalen Radiosendern übertragen (vgl. Paal, 2017). Es geht also um etwas in den Seminaren. So verwundert es nicht, dass Abschlussarbeiten an der Fakultät auch in Form von Dokumentarfilmen „verfasst“ werden können, die dann auch ausgestrahlt werden. Eine sinnvolle Lockerung des sonst so strikten Korsetts der finalen Prüfungsleistung.

Der Schneideraum des Fernsehstudios

Im Büro der Dekanin hängen Lula, Chavez und, natürlich, Fidel, an der Wand, gleich neben einer Reihe von Preisen und Danksagungen. Die Fakultät war zum Beispiel maßgeblich an der Ausarbeitung des Kommunikationskonzepts für die 500-Jahrfeier der Hauptstadt unter dem Motto „La Habana, lo más grande“ („Havanna, die Größte“) beteiligt, das um den 16. November 2019 herum das Stadtbild prägte.

Im nahegelegenen Seminarraum warten schon an die 50 Studierende auf uns. Drittsemester, die sich gerade mit Fremd- und Selbstregulation von Medien beschäftigen. Wir beginnen mit drei zentralen Thesen, die Herausforderungen für das deutsche Mediensystem darstellen und auch anschlussfähig an die Debatten in Kuba sind: Das Internet hat erstens das Wissens- und Deutungsmonopol der Journalisten gebrochen. Jeder kann nun „journalistisch“ agieren und seine Version der Wahrheit auf Facebook oder Twitter stellen, unter Umgehung der traditionellen journalistischen Gatekeeper. Ein Punkt, der auch in Kuba eine wichtige Rolle spielt, weil es seit Dezember 2018 frei zugängliches mobiles Internet gibt und die Wahrheit der Partei und des Staates nun auch mit anderen Wahrheiten konkurriert. Stichwort Fake News, die zum Beispiel während der Eröffnung eines großen Shoppingcenters in Havanna über WhatsApp gestreut wurden. Ergebnis: Randale und Festnahmen vor der Einkaufsmeile. These zwei: Das kommerzielle Rundfunksystem in Deutschland steht mächtigen Akteuren gegenüber, die verstanden haben, die Medienlogik mit hunderten PR-Mitarbeitern aus den Kommunikationsabteilungen der Konzerne und Behörden zu bedienen (Skandal! Personalisierung! Neuheit!) und damit die Seiten der Zeitungen indirekt zu füllen. These drei: Mit dem Verlust des journalistischen Deutungsmonopols und den existenziellen Krisen der Menschheit (Klima, Demokratie, Kapitalismus) kommt es zu Debatten über das journalistische Selbstverständnis. Soll man sich als Journalist mit keiner Sache gemein machen, „nicht einmal mit einer guten“ (Hanns Joachim Friedrichs), oder soll man Haltung zeigen, gegen Rechtsruck und Klimakatastrophe?

Unsere Thesen lösen eine lebhafte Debatte im Raum aus. Die Themen: Unterschiede und Gemeinsamkeiten von kommerziellen und staatlichen Mediensystemen. Die Rolle von sozialen Medien. Sicherheit von Journalisten in Deutschland angesichts des Erstarkens der AfD. Ein Student sieht Facebook kritisch, da es keine neutrale Plattform sei, sondern diese auch von politischen und wirtschaftlichen Interessen dominiert ist. So verweigert Facebook dem Staatspräsidenten Kubas, Miguel Díaz-Canel, eine eigene Facebookseite. Dieser ist mittlerweile auf Twitter unterwegs. Wie lange noch, ist ungewiss. Erst im September sperrte der Konzern die Accounts von Raúl Castro und von kubanischen Staatsmedien. Auf der anderen Seite erfahren wir, dass die kubanische Regierung selbst noch keinen wirklichen Umgang mit dem Internet gefunden hat. Mit dem Vorteil, dass sämtliche Internetangebote bisher frei zugänglich sind.

Als wir wissen wollen, wer gerne für die Parteimedien Granma und Juventud Rebelde arbeiten würde, geht ein Raunen und Kichern durch den Raum. Niemand meldet sich. Auch wenn es im kubanischen Mediensystem derzeit zu Veränderungen kommt, ist das den beiden Tageszeitungen bisher nicht anzumerken.* Bleiwüste und Fotos von Fidel Castro dominieren während unseres Aufenthalts das Erscheinungsbild der beiden Zeitungen (was auch mit dem dritten Todestag Fidels am 25. November zu tun haben kann). Das Fernsehen oder die Plattform Cuba Debate scheint für viele Studierende als Arbeitgeber attraktiver zu sein, wenn sie überhaupt journalistisch tätig werden und ihren Lebensunterhalt nicht in einem Sektor verdienen wollen, in denen man Peso Cubano Convertible (CUC-Dollar) verdient.

Gruppenfoto mit einem Teil des Seminars in Havanna

Im zweiten Teil des Seminars geht es dann um das kurdische Mediensystem mit einem Fokus auf Nordsyrien. Wir sprechen über neu entstandene kurdische Medien und das aktivistische Selbstverständnis kurdischer Journalisten, die ihre Arbeit auch als Dienst an der Sache für Kurdistan sehen. Auch wenn diese Thematik für die Studierenden noch weiter weg ist als Deutschland, ist das Interesse groß. Wir sprechen über die gesellschaftliche Transformation Nordsyriens und Abdullah Öcalans Theorien. Insgesamt beeindrucken uns die Diskussionsfreudigkeit und auch der Wissensstand. Es gibt so viele Fragen und Beiträge, dass wir gar nicht auf alle eingehen können. Kein Blatt wird vor den Mund genommen, und auch die Hierarchie zwischen Dozierenden und Zuhörern scheint geringer als an deutschen Universitäten zu sein.

Übersetzungshilfe erhalten wir an diesem Tag von Daniel, der im letzten Studienjahr ist und derzeit als Abschlussarbeit an einem Buchprojekt über die Kultur seiner Heimat, der Isla de la Juventud, sitzt. Er spricht perfekt Englisch, erlernt auch durch Sitcoms und Youtube-Videos. Als wir ihn im Anschluss an das Seminar fragen, ob wir „zu kritisch“ waren, schaut er uns nur ungläubig an und sagt: „Ihr wart zu unkritisch. Ich bin Sozialist und als solcher ist es meine Hauptaufgabe, alles kritisch zu hinterfragen, auch unser eigenes System“.

Zeitgleich zu unserem Aufenthalt läuft die alle zwei Jahre stattfindende ICOM-Konferenz im Palacio de las Convenciones mit hunderten KollegInnen aus Lateinamerika und Manuel Castells als Keynote. Eine Konferenz, von der wir bisher nicht gehört hatten. Die Anwesenheit so vieler KommunikationswissenschaftlerInnen stellt auch eine Anerkennung für die Arbeit der kubanischen KollegInnen dar und straft unsere Unwissenheit als westlich-zentriert. Auf der Konferenz lernen wir die Dekanin Hilda Saladrigas kennen und diskutieren über mögliche Kooperationen zwischen unseren Instituten.

An der Camilo Cienfuegos-Universität in Matanzas

Wenige Tage später machen wir uns auf den Weg nach Matanzas, Zentrum der gleichnamigen Provinz, östlich von Havanna. Der ursprüngliche Termin musste verschoben werden, weil die örtliche Dekanin mit Dengue-Fieber im Krankenhaus lag. An der Universität Camilo Cienfuegos sind wir ebenfalls eingeladen, vor Kommunikationswissenschaftsstudierenden zu sprechen. Die Universität, ein früherer Militärstützpunkt, ist deutlich schlechter ausgestattet und auch die Zahl der KW-Studierenden ist mit derzeit 58 um ein Vielfaches kleiner als in Havanna. Es wird deutlich, dass wir hier auf dem Land sind. Weniger Fragen und Diskussion, mehr Starren aufs Smartphone, in der Hoffnung, dass der Unterricht bald vorbei ist. In Kuba konzentriert sich wissenschaftliche Exzellenz und alles, was damit einhergeht (finanzielle Ausstattung, Personal, engagiert-kritische Studierende), wie es scheint auf das Zentrum, und das ist Havanna. Dennoch war es ein Erlebnis, dass wir nicht missen wollen. Und für mich zugleich eine Zeitreise in die Vergangenheit, weil ich 2004 genau an dieser Universität mit einer Solidaritätsbrigade an der Renovierung der Studierendenunterkünfte auf dem Campus beteiligt war.

Nach einer Woche an kubanischen Universitäten ist festzuhalten, dass Kuba sich im Wandel befindet und im wissenschaftlichen Sinne mehr zu bieten hat, als oft angenommen. Vielleicht wird ja bald ein Studierendenaustausch zwischen München und Havanna möglich sein.

* Zu den Veränderungen und Kontinuitäten des kubanischen Mediensystems während der Präsidentschaft von Raúl Castro (2006-2018) hat unser Kollege Dasniel Olivera Pérez (2019) erst im Herbst eine Doktorarbeit abgegeben, die bisher noch nicht veröffentlicht ist. Bei Interesse können wir gerne einen Kontakt herstellen.

Literaturangaben

Antonia Paal: Cuba. In: Michael Meyen (Hrsg.), Mapping Media Freedom. LMU Munich: Department of Communication Studies and Media Research 2017.

Dasniel Olivera Pérez: Patrones de Interacción de Cambio y Continuidad en el Sistema Mediático Cubano durante la Presidencia De Raúl Castro (2006-2018). Ciudad de México: Universidad Iberoamericana 2019. (unveröffentlicht)

Fotos: Kerem Schamberger

 

Dieser Beitrag ist zuerst auf dem Blog Medienrealität erschienen. Die empfohlene Zitierweise lautet deshalb:

Kerem Schamberger:  Kommunikationswissenschaft im Sozialismus – ein Reisebericht aus Kuba. In: Michael Meyen (Hrsg.): Medienrealität 2019. https://medienblog.hypotheses.org/7927 (Datum des Zugriffs)