Rede auf der Kundgebung „Waffenruhe sofort! Schluss aller Aggressionen – für eine zivile Lösung für Israel und Palästina!“

Am Montag, den 18.05.21, versammelten sich am Münchener Rotkreuzplatz mehr als 100 Menschen, um gegen Krieg und Besatzung in Israel/Palästina zu demonstrieren (Aufruf siehe hier). Es war eine linke Kundgebung, die getragen wurde von der Landesarbeitsgemeinschaft Frieden und internationale Politik der Partei Die Linke in Bayern, der Jüdisch-Palästinensischen Dialoggruppe, dem Münchner Friedensbündnis, der Deutschen Kommunistischen Partei und der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend.

Ich durfte dort eine Rede halten, die ich hier dokumentiere:

 

Zur Asymmetrie des Krieges – Redebeitrag Palästina-Demo 17.05.21 München/Rotkreuzplatz

Liebe FreundInnen, liebe GenossInnen, liebe ZuhörerInnen,
wir haben uns heute versammelt, um unsere Solidarität mit den PalästinenserInnen zu zeigen, die seit Tagen wieder den brutalen Angriffen des israelischen Militärs ausgesetzt sind, die aus ihren Wohnungen und Häusern in Sheikh Jarrah in Ost-Jerusalem vertrieben werden sollen und die auch noch während des Ramadan in der Al-Aqsa Moschee mit Tränengas beschossen worden sind. Bis gestern sind fast 200 Menschen in Gaza durch die israelische Bombardierung gestorben, darunter 58 Kinder und 34 Frauen. Mehr als 42.000 Menschen mussten aufgrund der anhaltenden israelischen Luftangriffe ihre Häuser und Wohnungen verlassen und sind auf der Flucht. In der Westbank sind ebenfalls mindestens 13 Palästinenser von der israelischen Armee erschossen worden.

All diesen Menschen gilt unsere Solidarität und Mitgefühl!

Wir sind heute auch hier, um gegen Angriffe auf die israelische Zivilbevölkerung zu protestieren. Zehn Menschen sind durch den Raketenbeschuss der Hamas getötet worden. Unsere Solidarität und Unterstützung gilt den linken Kräften des Friedens, die in Israel gegen die Kriegspolitik der rechten Netanjahu-Regierung und die Lynchjustiz nationalistischer Siedler auf die Straßen gehen.

Liebe FreundInnen, ich weiß, dass jede kurze Rede der Komplexität der Situation nicht gerecht wird.

Ein Beispiel dafür: Zwei der in Israel von Hamas-Raketen getöteten Menschen sind PalästinenserInnen gewesen (Quelle: Haaretz). Sie haben in einem kleinen Dorf namens Kfar Dahmash gelebt. Ihre Namen waren Khalil Awad und seine 16-jährige Tochter Nadin. Das ist furchtbar. Manche werden sagen: seht her, wie die Hamas sogar ihre eigenen Leute umbringt.

Aber es ist komplizierter: Das 800-Seelen Dorf von Khalil und Nadin war seit Jahrzehnten vom israelischen Staat nicht anerkannt worden. Wie so viele andere palästinensisch-arabische Ansiedlungen in Israel. Erst vor drei Wochen wurde nach ewigen Auseinandersetzungen entschieden, dass das Dorf Ende des Jahres an eine der größeren Gemeinden in der Nähe angeschlossen werden und damit endlich aus dem Status des Niemandslandes heraus kommen sollte.

Und weil der israelische Staat das Dorf nicht anerkannt hatte, wurde seinen palästinensischen Bewohnern verboten Bunker und Unterstände zu bauen, die sie vor dem Raketenbeschuss geschützt hätten. Ihre Häuser durften keinen permanenten Charakter aufweisen und nicht befestigt sein, während nur wenige Kilometer entfernt ihre jüdischen Nachbarn sich in ihren Bunkern in Sicherheit bringen konnten.

Dieses traurige Beispiel ist also auch Ausdruck eines Systems der systematischen Trennung und Ungleichbehandlung, das Human Rights Watch und die meisten großen israelischen NGOs zu Recht als Apartheid bezeichnen.

Es zeigt auch, dass es trotz der Komplexität eine grundlegendes Ungleichgewicht gibt, die nicht vergessen werden darf. Es ist kein Krieg zwischen zwei gleichstarken Seiten. Israel verfügt über eine der modernsten Armeen der Welt. Während die Menschen in Gaza in einer Art Open Air-Gefängnis festgehalten werden, bei dem so gut wie alles von außen vom israelischen Militär kontrolliert wird. Wenn ich dort geboren wäre, müsste ich mein ganzes Leben in einem Gebiet verbringen, in dem eine Autofahrt von der östlichen Grenze zu Israel bis zum Mittelmeer im Westen zehn Minuten dauert.

Die israelische Armee, die den Gaza-Streifen abschottet, wird übrigens auch von Deutschland hochgerüstet. Die Bundesregierung macht sich mit ihrer bedingungslosen militärischen und diplomatischen Unterstützung Israels an den Morden in Gaza mitschuldig – die deutschen Rüstungslieferungen müssen deshalb sofort eingestellt werden.

Die Hauptverantwortung für die Eskalation trägt die israelische Regierung. Deutsche Politiker und Medien sprechen von militanten Palästinensern und der radikal-islamischen Hamas und dem Recht auf Selbstverteidigung Israels. Die Ursachen für die Bombardierung Gazas und die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen PalästinenserInnen und jüdischen israelischen Staatsangehörigen werden meist nicht erwähnt. Es geht um die systematische Vertreibung palästinensischer Familien aus Ost-Jerusalem. Sie steht symbolisch für die Ungleichbehandlung und Ungerechtigkeit unter der diese Menschen seit Jahrzehnten zu leiden haben.

Es ist vor allem die israelische Regierung, die kein Interesse an einer Beilegung des Konflikts hat. Waffenstillstandsangebote wurden von ihr abgelehnt, denn sie befindet sich in einer innenpolitischen Krise. Netanjahu versucht sich mit allen Mitteln an der Macht zu halten, weil er ansonsten in den Knast kommen könnte.

Liebe FreundInnen, ein paar Worte zur Hamas: Auch wenn es eine Reaktion auf die Geschehnisse in Ost-Jerusalem und der Al-Aksa-Moschee war, ist klar, dass der willkürliche Raketenbeschuss durch die Hamas aufhören muss und abzulehnen ist. Auch wenn es völkerrechtlich das Recht auf bewaffneten Widerstand gibt, darf die Zivilbevölkerung auf beiden Seiten auf keinen Fall ins Visier genommen werden!

Es scheint fast so, als ob sich Hamas und Netanjahu gegenseitig brauchen, um sich jeweils an der Macht zu halten (Quellen und Gedanken dazu siehe hier). Es ist ein strategisches Interesse der israelischen Rechten die Hamas nicht zu stürzen, weil man ansonsten keinen Grund mehr hätte den für Israel so komfortablen Status quo aufrechtzuerhalten und in Verhandlungen treten müsste.

Netanjahu sagte im März 2019: „Wer die Gründung eines palästinensischen Staates verhindern will, muss die Stärkung der Hamas unterstützen. Das ist Teil unserer Strategie – eine klare Trennung zwischen den Palästinensern in Gaza und denen im Westjordanland zu schaffen“.

Und der mittlerweile verrentete General der israelischen Armee, Gershon Hacohen, sagte im Mai 2019: „Wir sollten nicht an einen Punkt kommen, an dem wir die Hamas besiegen und dann in die Falle einer Zweistaatenlösung tappen“.

Und auf der anderen Seite versucht sich die reaktionäre Hamas mit dem Raketenbeschuss Israels als einzige Kraft darzustellen, die noch Widerstand leistet.

Netanjahu und die Hamas sind Zwillinge des gleichen reaktionären Nationalismus und Fundamentalismus, denen es vor allem um den eigenen Machterhalt geht.

Beide Seiten können für uns als Linke kein Bezugspunkt sein.

Unsere Solidarität gilt den fortschrittlichen Kräften auf beiden Seiten, die für Gleichberechtigung und einen gerechten Frieden auf die Straße gehen.

Anstatt ethnischer Spaltung braucht es Klassensolidarität. So wie die jüdischen Fahrer der Firma Superbus in Tiberias letzte Woche ihre palästinensischen Kollegen nachhause begleitet haben, um sie vor Angriffen von rechten jüdischen Nationalisten zu schützen.

Klassensolidarität ist auch, wenn italienische HafenarbeiterInnen in Livorno sich weigern ein Schiff zu beladen, weil es Waffen nach Israel bringen soll.

An diesem Wochenende haben Tausende israelische Juden und Jüdinnen und PalästinenserInnen auf hunderten Plätzen an verschiedenen Orten Israels gegen den Krieg der Regierung protestiert und gegen die Gewalt rechter Mobs, die Menschen auf den Straßen zusammenschlagen. Wenn wir uns in Deutschland fragen, an wessen Seite wir stehen sollen, dann ist die Antwort: genau bei diesen Protestierenden, die ein Beispiel für ein friedliches Zusammenleben sind.

Unsere Solidarität gilt neben der normalen Bevölkerung insbesondere auch den fortschrittlichen Kräften in Palästina, die nicht nur gegen die israelische Besatzung kämpfen müssen, sondern auch gegen das reaktionäre Islamverständnis von Hamas und anderen Gruppen.

Am morgigen Dienstag soll es einen palästinensischen Generalstreik gegen den Krieg geben, der auch die in Israel lebenden PalästinenserInnen umfasst. Sie halten als unterbezahlte Arbeitskräfte die israelische Wirtschaft mit am Laufen und beteiligen sich zum ersten Mal massiv an den Protesten gegen die Unterdrückung.

Unsere Solidarität gilt auch den Organisationen Palästina spricht, der Jüdischen Stimme und dem Jüdischen Antifaschistischen Bund hier in Deutschland, die in den letzten Tagen in vielen Städten große fortschrittliche Proteste gegen den Krieg, ethnische Säuberung und die israelische Besatzung organisiert haben und sich gleichzeitig klar gegen Antisemitismus und Rassismus ausgesprochen haben.

Liebe FreundInnen, all das sind Zeichen der Hoffnung in Mitten der großen Dunkelheit dieser Tage – Es lebe die internationale Solidarität!