Ein kurzes (unvollständiges) Update zu den Geschehnissen in der Türkei in den letzten Tagen.
Das Morden des türkischen Staates geht in Nordkurdistan unvermindert weiter. Im Fokus steht dabei nach wie vor die Großstadt Cizre. Seit dem 14. Dezember wurden dort 32 Zivilisten ermordet. Heute, vor einigen Stunden erst, wurde das zwölfjährige Kind Biseng Goran von der Armee erschossen.
Nachdem das Haus von Biseng´s Familie bombardiert wurde, verließen sie unter weißen Fahnen das Gelände. Trotzdem wurde die Menschengruppe beschossen und dabei das Kind am Kopf getroffen. Eine Frau, die im besonders betroffenen Nur-Viertel lebt, äußerte sich gegenüber IMC wie folgt: „Sie ermorden die Kinder und nennen sie ‚Terroristen‘, sie ermorden 70-jährige uns nennen sie ‚Terroristen‘. Sind wir denn alle Terroristen? Wir sind Zivilisten, wir haben Kinder und Häuser. Sind wir denn keine Muslime?“ Auch in Sirnak wurden gestern wieder zwei Zivilisten erschossen.
Das die Soldaten dabei keine Angst vor Strafverfolgung haben müssen, ist gestern bekannt geworden. Die Armeeführung verschickte an die in Cizre stationierten „Sicherheitskräfte“ eine Aufforderung von ihren Schusswaffen gebrauch zu machen und dabei „keine Angst davor zu haben, (danach) vor die Staatsanwaltschaft treten zu müssen“.
Währenddessen kommt aus Silopi die Nachricht, dass dort gestern drei Frauenaktivistinnen der kurdischen Freiheitsbewegung von der türkischen Armee umgebracht worden sind. Es handelt sich um die Ko-Vorsitzende(!) des Volksrates in Silopi Pakize Nayir, die Aktivistin der kurdischen Frauenbewegung Seve Demir, die wegen des KCK-Prozesses 5 Jahre inhaftiert war und 2012 am 69-Tage währenden Hungerstreik für die Aufnahme von Friedensverhandlungen teilnahm. Der dritte Sehid ist Fatma Uyar, ebenfalls Aktivistin der Frauenbewegung. Gleichzeitig wurden in der Region 37 Menschen in Untersuchungshaft genommen. Diese Morde erinnern an Paris vor drei Jahren, als von einem türkischen Geheimdienstagenten drei führende PKK-Politikerinnen durch Kopfschüsse umgebracht wurden.
An dieser Stelle ein kurzer Hinweis/Werbeblock auf den englischen Blog http://kurdishquestion.com/, der bereits sehr früh über diese drei Morde berichtet hatte und (mit Englischkenntnissen) sehr lesenswert ist.
Auch sehr gut berichtet das offizielle Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit, Civaka Azad, mit Sitz in Berlin. Dor arbeiten sehr gute GenossInnen mit. Auch sie berichten über die Morde.
Gleichzeitig läuft auch die politische Repression weiter. Während Staatspräsident Erdogan diese Woche (zum wiederholten Male) gefordert hat, die Immunität der HDP-Abgeordneten aufzuheben, spricht Ministerpräsident Davutoglu davon, dass die HDP für ihre Forderung nach Selbstverwaltung und ihre derzeitige generelle politische Haltung zur Rechenschaft gezogen werden wird. Der HDP-Politiker Sirri Süreyya Önder geht diesmal davon aus, dass sie diesmal alle festgenommen werden: „Sie werden unsere Immunität aufheben. So sieht es aus. Und wir werden verhaftet werden.“ Parallel dazu wurde der Bürgermeister der kurdischen Großstadt Van, Bekir Kaya, vor zwei Tagen im KCK-Prozes zu 15 Jahren(!) Haft verurteilt. Noch ist er auf freiem Fuß und wird Widerspruch gegen das Urteil einlegne.
Eine politische Opposition ist in der Türkei also so gut wie nicht mehr möglich, dies wird weitere hunderte Menschen in den bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat treiben. Trotzdem versucht die HDP nun noch einmal mit einer Reihe von geplanten Kundgebungen ihren demokratischen Protest für mehr Selbstverwaltung und Autonomie der einzelnen Regionen auf die Straße zu bringen und ruft für die kommenden Woche zu Aktionen auf. Details dazu sind noch nicht bekannt. HDP-Ko-Vorsitzender Selahattin Demirtas sagte zu den Diskussionen um Selbstverwaltung und im Bezug auf Erdogans Hitler-Vergleiche: „Es ist ok, dass Hitler-Staatsmodell vorzuschlagen, aber über das Schwedische-Modell zu diskutieren ist ein Verbrechen. Komisch.“ Er ergänzte zudem: „Wir haben keine Vorbedingung, um an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Wir könnten in kürzester Zeit zu Friedensverhandlungen zurückkehren, das hängt von der AKP ab.“
Noch zwei Hinweise zur Pressefreiheit in der Türkei:
Eine gute Nachricht ist, dass gestern der seit 4 Monaten inhaftierte VICE-Journalist Mohammed Rasool gegen eine Kaution entlassen wurde. Dies hat gestern und heute für viel Freude im Netz gesorgt.
Aber: Das gleichzeitig die Korrespondentin der weltweit einzigartigen Frauennachrichtenagentur Jinha, Rojda O?uz, inhaftiert worden ist, wird für keine große Aufmerksamkeit sorgen. Sie wurde gestern bei Razzien in einem Studentenwohnheim in Van festgenommen.
Zum Schluss noch ein Hinweis auf einen lesenswerten Bericht über Zagros Hiwa, dem Pressesprecher der PKK in den Kandil-Bergen, der sich nach seinem Englisch-Masterstudium in Sanandaj (Westiran/Ostkurdistan) 2001 der Bewegung angeschlossen hat. Er ist der Kontaktmann, wenn die westliche Presse eine/n ranghohe/n Vertreter/Vertreterin der KCK/PKK interviewen will.