Kritik an der Theorie der Zivilisation Norbert Elias‘

Die Elias-Duerr-Kontroverse.
Soziologische Kritik an der Theorie der Zivilisation Norbert Elias´

Hausarbeit im 4. Fachsemester Soziologie im Seminar „Die Soziologie Norbert Elias'“, geleitet von Dr. Holger Knothe

Aus der Einleitung:
„Der von Elias in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts aufgestellte Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation gilt als das Hauptwerk des Soziologen (Hinz, 2002,S: 26). Dabei leiteten ihn der allgemeine Wunsch der klassischen Soziologie sozialen Wandel, also die Beschreibung und Erklärung gesellschaftlicher Veränderungen zu beschreiben. In einer neuen Einleitung von 1968 zu seinen beiden Bänden „Über den Prozeß der Zivilisation“ schreibt Elias: „Die langfristigen Transformationen der Gesellschaftsstrukturen und damit auch der Persönlichkeits-strukturen hat man im großen und ganzen gegenwärtig aus den Augen verloren“ (Elias, 1980, VIII). Für Elias stellt sich die große Frage, wie es zu einer immer weitergehenderen Zivilisierung der Menschen in Mitteleuropa (vor allem in Frankreich und Deutschland) gekommen ist.“

Kritik:
„Wie anderen Kritikern, drängte sich auch mir der Verdacht auf, mit der Zivilisationstheorie eine Legitimation für den Kolonialismus zu liefern. Auch wenn Elias selbst seine Theorie nicht als evolutionistisch und kolonialistisch gedacht hat – und das hat er immer wieder betont (Elias, 1988) – so lässt sich seine Theorie doch für die Rechtfertigung der „Zivilisierung“ fremder Völker benutzen. Das beste Beispiel dafür, dass eine „Zweckentfremdung“ von Theorien generell möglich ist, ist die biologistische Evolutionstheorie, die von Charles Darwin aufgestellt wurde und dann von den Sozialdarwinisten auf die gesellschaftliche Entwicklung des Menschen übertragen und ausgenutzt wurde. Auch die Theorie der Zivilisation von Norbert Elias ist für solch eine Verwendung benutzbar, da sie sich selbst nicht klar genug von Kolonialismus und Evolutionismus abgrenzt. Das es nicht Elias Intention gewesen ist, eine solche Praktiken rechtfertigende Theorie zu erschaffen, soll hier nochmal hervorgehoben werden. Sein Lebensweg, die Verfolgung durch die Nazis und der Verlust eines Teils seiner Familie in den Gaskammern von Auschwitz, sprechen eindeutig dafür, dass Elias kein Interesse an der Produktion einer weiteren menschenverachtenden Theorie gehabt haben kann (Elias, 1980, S. 5). (…)
Allerdings ist dieser Rückfall in die Barbarei eines von vielen Beispielen in der europäischen und deutschen Geschichte, die eine praktische Widerlegung der Gerichtetheit des Zivilisationsprozesses, ja der Zivilisierung selbst, darstellen. Das Massaker an den Herero zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bei dem im heutigen Namibia mehrere zehntausend Menschen von deutschen Truppen umgebracht bzw. gezielt in der Wüste verhungert lassen wurden, spricht nicht für eine besonders hohe Affektkontrolle gegenüber Mitgliedern, die nicht der eigenen Gesellschaft angehören. Auch als die Juden in den Konzentrationslagern vernichtet wurden, schwieg die Mehrheitsgesellschaft unter anderem deshalb, weil man die Juden nicht als Teil der eigenen Gesellschaft betrachtete (…).
Wieso geht durch die deutsche Gesellschaft kein Aufschrei der Peinlichkeit, wenn deutsche Soldaten in Afghanistan Kriegsverbrechen begehen oder wenn jeden Tag im Mittelmeer afrikanische Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa ertrinken? Eine dazu weiter zuentwickelnde These von mir wäre, dass die Kontrolle der Affekte und des Triebhaushaltes in der eigenen europäischen und deutschen Gesellschaft zwar relativ gut funktioniert, aber dafür kein Mitgefühl (oder Scham- und Peinlichkeitsgefühl) für Vorgänge außerhalb der eigenen Gesellschaft entwickelt werden. Es kommt, um im Denkschema Elias´ zu bleiben, zu einer Art Auslagerung der unterdrückten Affekte außerhalb der eigenen Gesellschaft, in nicht-abendländische, nicht-westliche Gesellschaften.
Ein weiterer Kritikpunkt ist, wer denn die Definitionshoheit von dem was „Zivilisation“ ist, besitzt. Was würden wir davon halten, wenn ein Soziologe aus Papua-Neuguinea eine Theorie der Zivilisation entwirft und darin seine Gesellschaft als zivilisierter als unsere Gesellschaft bezeichnen würde? (…) Allerdings müssen wir noch nicht mal unsere Gesellschaft verlassen. Wie würde unser jetziger Stand der Zivilisation in 300 Jahren eingeschätzt werden? Wie wird die Geschichte über unsere Gesellschaft urteilen? Würde sie nicht zu dem Schluss kommen, dass wir unzivilisiert sind, wenn auf der einen Seite täglich 30.000 Menschen in nicht-abendländischen Gesellschaften verhungern und in Europa mit Nahrungsmitteln spekuliert wird, subventionierte Milch weggeschüttet und Orangen im Meer versenkt werden, um die Marktpreise stabil zu halten? Ist letztendlich die kapitalistische Marktlogik mit dem Zwang Profit zu machen nicht eine andere Form der Barbarei? Eine Form, die bei uns keine Scham- und Peinlichkeitsgefühle weckt? Auch Ebrahim Mirnam Nia (2003) geht in die selbe Richtung, wenn er schreibt: „Selbst in der Epoche der Globalisierung (…) widerspricht die Erfahrung wahrlich der These, daß die heutige Zivilisation ein Zuwachs an Kultur und Humanität mit sich brachte“ ( S. 338).
(…) Ein letzter Kritikpunkt betrifft die Oberschichtenfixiertheit Elias`. Für ihn ist der Adel im Mittelalter der Motor des gesellschaftlichen Wandels (Treibel, 2008, S.52). Die Unterschichten sind für Elias reine Empfänger der Wandlungen in der Oberschicht. Es grenzt schon an Unterschichtenfeindlichkeit, wenn er schreibt, dass „Unterschichten ihren Affekten und Trieben unmittelbarer nachgeben“ (Elias,1989, S. 324) als Mitglieder der Oberschicht. Dabei war doch gerade die adelige Oberschicht der Bremser gesellschaftlichen Entwicklung hin zu einer kapitalistischen Formationsweise, was letztlich zur Französischen Revolution 1789 führte.“

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