Es ist ziemlich schwer mit den Türkei-Updates, die ich ab und zu auf diesem Blog veröffentliche, hinterherzukommen. Es vergeht kein Morgen, an dem man aufwacht und nicht irgendeine andere Horror-Nachricht über die Ticker läuft. Gestern früh war es der Selbstmordanschlag im Istanbuler Altstadtviertel Sultan Ahmet, bei dem elf Menschen gestorben sind. Der IS-Wahnsinn, den die türkische Regierung selbst groß gemacht hat, fängt nach Ankara und Suruc jetzt auch in Istanbul an, sein Unwesen zu treiben.
Dabei fällt mir auf: Beim Gedenken an Opfer von Krieg und Terror gibt es eine ganz bestimmte Trauer-Hierarchie. An erster Stelle stehen Menschen, die bei Anschlägen in Europa gestorben sind (da ändert man dann sogar sein Facebook-Profilbild), an zweiter Stelle Menschen, die im Westen der Türkei ermordet wurden (einige türkische Fahnen fanden sich dabei gestern auf meiner FB-Timeline) und an letzter Stelle die Menschen, die im Osten der Türkei, also Nordkurdistan, aber auch in Syrien/Rojava tagtäglich ums Leben kommen. Diese sind nur selten eine Zeile wert, geschweige denn so etwas „großes“ wie eine FB-Profilbildänderung. Dabei ist jeder Mensch, der durch Krieg und Terror ermordet wird, einer zu viel.
44 Sekunden vs. 10 Minuten 27 Sekunden
Staatspräsident Erdogan hielt gestern nach den Anschlägen eine 38-minütige Rede. Was stand im Mittelpunkt? Während die Verletzten in Istanbul gerade in die Krankenhäuser transportiert wurden, arbeitete sich der Staatsmann an einem anderen Thema ab: Einem Friedensaufruf.
Am Montag veröffentlichten 1128, vor allem türkische AkademikerInnen den Aufruf „Akademiker für den Frieden“ mit der Überschrift „Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein“ (Internetseite mit Aufruf auf Deutsch).
Unterstützungsunterzeichnungen kamen von Noam Chomsky, David Harvey, Immanuel Wallerstein, Judith Butler und vielen weiteren. Der Aufruf spricht sich für ein Ende der Kriegsoperationen, für den Frieden und für die Aufnahme von Verhandlungen mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) aus: „Wir fordern den Staat auf, diese Vernichtungs- und Vertreibungspolitik gegenüber der gesamten Bevölkerung der Region, die jedoch hauptsächlich gegen die kurdische Bevölkerung gerichtet ist, sofort einzustellen. Alle Ausgangssperren müssen sofort aufgehoben werden. Die Täter und die Verantwortlichen der Menschenrechtsverletzungen müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Die materiellen und immateriellen Schäden, die von der Bevölkerung zu beklagen sind, müssen dokumentiert und wiedergutgemacht werden. Zu diesem Zweck verlangen wir, dass nationale und internationale unabhängige Beobachter freien Zugang zu den zerstörten Gebieten erhalten, um die Situation vor Ort einzuschätzen und zu dokumentieren.(…)“
Nach dem Schritt in die Öffentlichkeit bricht nun eine Shitstorm-Welle über die Wissenschaftler herein. Nationalisten jeglicher Coleur sprechen ihnen mangelnde Kompetenz aus, sie seien es nicht Wert „Wissenschaftler“ genannt zu werden. Medien werfen ihnen Komplizenschaft mit der PKK vor (siehe Bild). Auch Erdogan arbeitete sich in seiner gestrigen Rede ganze 10 Minuten und 27 Sekunden an dem Aufruf ab. Den kurz zuvor erfolgten Anschlag in Istanbul erwähnte er nur 44 Sekunden. Herablassend nannte er den Friedens-Aufruf ein „Akademiker-Manuskript“ und machte die UnterzeichnerInnen zur Zielscheibe: „Intellektuelle, entweder ihr seid auf der Seite des Staates oder auf der Seite der Terroristen“. Nur einige Stunden nach seiner Rede erklärte der Hochschulrat der Türkei, dass diese Terrorismus-Unterstützung nicht akzeptiert werden könne und das rechtlich Nötige gegen die Unterzeichner veranlasst werde. Erdogan lud in seiner Rede außerdem den Mitunterzeichner Noam Chomsky in die Türkei ein, um sich selbst ein Bild machen zu können und mit ihm zu diskutieren. Darauf antworte Chomsky heute:
„Die Türkei beschuldigt den IS das Attentat in Sultanahmet begangen zu haben, dabei unterstützt Erdogan den IS auf verschiedensten Wegen, genauso wie er die Al-Nusra-Front unterstützt, die sich vom IS nicht groß unterscheidet.(…) Muss ich das noch weiter kommentieren?“
Einige nationalistische AkademikerInnen sind sich gestern nicht zu dumm gewesen, einen Gegenaufruf zu starten. Titel „Akademiker für die Türkei“, Überschrift: „Wir unterstützen die Operationen“. Bisher hat er nur einige Dutzend Unterschriften und es geht das Gerücht um, dass die meisten davon gefälscht sind.
22% der Bevölkerung auf der Flucht
Wozu die „Operationen“, also der Krieg gegen die kurdische Bevölkerung, führen, wurde nun sogar von AKP-Abgeordneten öffentlich gemacht. Sie veröffentlichten Zahlen, nach denen in Cizre, Silopi, Sur und Nusaybin 22% der Bevölkerung ihre Wohnungen/Städte verlassen und fliehen mussten. Das sind 93.000 Menschen. Weitere 220.000 Menschen sollen vom Krieg direkt betroffen sein.
Aufgrund dieser Zahlen ruft nun endlich auch eine große weltweite NGO, nämlich Amnesty International, dazu auf, für Cizre, Sur und Silopi in Bewegung zu kommen.
Wie es in kurdischen Städten derzeit aussieht, seht ihr in diesem Video aus der Altstadt Sur in Diyarbakir:
Eine interessante stadtplanerische/gentrifizierungskritische Bemerkung zu diesem Video noch: Die Stadtplanervereinigung SPO (unter dem Dach der Architektenkammer TMMOB) hat eine Erklärung veröffentlicht, in der sie den Verdacht äußern, dass die Zerstörung der Altstadt Sur seitens der türkischen Armee auch von Kreisen der Immobilienwirtschaft unterstützt wird. Diese hoffe sich nach den Kriegshandlungen endlich in das zentrale Altstadtviertel der Millionenmetropole Diyarbakir investieren zu können, um dort neue Luxusbauten zu errichten. Bisher war nämlich die Gentrifizierung des Stadtteils am Widerstand der Bewohner von Sur und von linken Teilen der kurdischen Freiheitsbewegung gescheitert. Auch die Aufnahme der Altstadt in das Unesco-Weltkulturerbe im Sommer 2015 erschwerte eine Gentrifizierung und damit auch eine Zerschlagung der dortigen starken kurdischen Bewegung. Im Rest von Diyarbakir, dass muss man kritisch anmerken, boomt die Bauwirtschaft. Es fand in den vergangenen Jahren, trotz eines BDP/HDP-Bürgermeisters (Osman Baydemir, dessen Bruder groß in der Bauwirtschaft ist), eine weitestgehend neoliberale Stadtentwicklung statt. Unter der neuen linken Bürgermeisterin Gülten Kisanak scheint es dabei einige Änderungen zu geben, aber dass kann ich noch nicht so gut einschätzen.