Widerstand und Kunst – Westsahara Tag 4

Während wir uns nach wie vor in den Flüchtlingslagern aufhalten, erreicht uns die Nachricht, dass das Europaparlament für ein Fischereiabkommen mit Marokko gestimmt hat, dass Fangflotten aus Europa den Zugang zu Fischgründen vor Marokko und vor allem vor der Westsahara sichert. Und das, obwohl das Abkommen gegen eigene Urteile des Europäischen Gerichtshof (Februar 2018) und das Völkerrecht verstößt. Im Gegenzug wird die EU in den nächsten vier Jahren weitere 160 Millionen Euro zahlen, die dem Königshaus auch dabei helfen werden, die Besatzung der Westsahara weiter aufrechtzuerhalten. Marokko kontrolliert etwa 80% des Gebietes (in dem die Küsten und Bodenschätze liegen), die Polisario bzw. die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) hat den Rest (vor allem Wüste) unter Kontrolle. So kostete allein die Instandhaltung der Mauer zwischen Marokko und der Polisario in Kriegszeiten vier Millionen Dollar am Tag.

Als Marokko das Gebiet 1975 besetzte, waren es vor allem politische und weniger ökonomische Gründe, die das Königshaus dazu bewegten. Anfang der 70er Jahre gab es im marokkanischen Militär Putschpläne, die den König zu stürzen drohten. Hinzu kam eine tiefe Unzufriedenheit der marokkanischen Bevölkerung (Stichwort: Armut und Arbeitslosigkeit). Für die Monarchie war es deshalb ein willkommener Ausweg, das Militär und die Menschen mit einem nationalistischen Projekt eines „Großmarokkos” zu beschäftigen. Zehntausende Soldaten wurden weit weg vom Zentrum in den Süden geschickt und mit ihnen mehr als 350.000 nationalistisch aufgeheizte Menschen, die am 6. November die Grenze zu Westsahara überquerten und das Gebiet okkupierten. Viele kehrten zwar anschließend zurück, es war jedoch trotzdem der Beginn einer gezielten Siedlungsbewegung, mit dem Ergebnis, dass heute mehr Marokkaner in der Westsahara leben als Sahrauis.

Am vierten Tag unseres Aufenthalts nehmen wir an einer Versammlung der „National Union of Sahrawi Women” im Flüchtlingslager Smara teil. In allen Camps gibt es derzeit Per-Konferenzen von Frauen, da vom 23.-25. Februar der alle vier Jahre stattfindende Gesamtkongress abgehalten wird. Auf diesen Vorbereitungsversammlungen wird Kritik geübt, es wird darüber diskutiert, warum bestimmte Sachen nicht funktioniert haben. Zum Beispiel, warum die Teilnahme an bestimmten Workshops nicht besonders hoch war. Derzeit wird zudem über die Ausbildung von weiblichen Taxifahrerinnen gesprochen, die direkt von der Frauenunion organisiert wird. In Smara gibt es – im Gegensatz zu anderen Camps – das Problem, dass viele Mikrokredite nicht zurückgezahlt werden. Es wird lebhaft über die Gründe dafür diskutiert. Spannend, wie sich in einem politischen Raum nur für Frauen solche Debatten entwickeln. Geleitet wird die Versammlung von Rabub Parka, die im Vorstand verantwortlich für Kultur, Information und Medien ist. Zusammen mit ihr und zwei weiteren Frauenaktivistinnen, Enguia Salem, Vorsitzende der Frauenunion im Flüchtlingslager von Smara, und Fatimatu Ahmed Larusi, Vorsitzende der Frauenunion im Distrikt Birlehlu im selben Flüchtlingslager, diskutieren wir später wieder über Frauenbefreiung und ihre täglichen Probleme. Das Gespräch haben wir live auf Facebook übertragen. Im Anschluss solidarisierten sie sich mit Leyla Güven und ihrer Forderung nach einem Ende der Totalisolation von Abdullah Öcalan und der Aufnahme von Gesprächen. Dafür ist die kurdische Politikerin seit 97 Tagen im Hungerstreik. „Wo auch immer Frauen im Widerstand gegen Unrecht und Unterdrückung aktiv sind, stehen wir solidarisch an ihrer Seite. So auch mit Leyla Güven und der kurdischen Frauenbewegung“, sagt Rabub Barka dazu. Hungerstreik als Mittel der politischen Aktion ist auch in der Westsahara und der Frente Polisario bekannt. Die sahrauische Aktivistin Aminatou Haidar befand sich im Winter 2009 für 32 Tage im Hungerstreik, als Marokko sie von El Aaiun nach Lanzarote abgeschoben und ihren Pass entzogen hatte. Sie hatte zuvor auf ihrem Einreiseformular in einem Akt des Widerstandes als Staatsangehörigkeit „Sahrauisch“ und nicht „Marokkanisch“ angegeben. Nach mehr als einem Monat und weltweiter Aufmerksamkeit war ihr Protest erfolgreich und sie konnte zurück in die Westsahara. Die Frauenaktivistinnen betonten im Gespräch, dass sie hoffen, dass auch Leyla Güven weltweite Aufmerksamkeit erhält und ihre Forderungen erfüllt werden.

Am nächsten Tag geht es nach Rabouni, dem „Verwaltungslager”, in der die UN und auch die Ministerien der DARS ihren Sitz haben. Denkt man, aus Deutschland kommend, an staatliche Behörden und Ministerien, erwartet man große, imposante Gebäude, in denen sich der einzelne Mensch klein und unbedeutend fühlt. In Rabouni unterscheiden sich die staatlichen Institutionen jedoch nicht wirklich von den Hütten der geflüchteten Sahrawis.

Sie sind alle einstöckig und meist aus Lehmziegeln erbaut. Auf der Fahrt kommen wir an einem Gymnasium vorbei, das von Kuba finanziert und gebaut wurde. Alle Lehrer kommen aus Venezuela oder Kuba, die Lehrpläne auch. Die Schulsprache ist dementsprechend Spanisch. Ein Akt der Solidarität mitten in der Wüste, von dem sich der Westen eine große Scheibe abschneiden könnte. Kuba leiten dabei nicht geostrategische oder ökonomische Interessen, sondern internationale Solidarität, die seit der Revolution vor sechzig Jahren eine der wichtigsten Handlungsmaxime der sozialistischen Karibikinsel ist. Unterwegs kommen wir auch an zwei Militärtransportern vorbei. Auf der Ladefläche dutzende Soldaten, die zum Dienst in die von der Polisario befreiten Gebiete gebracht werden. Die Fahrt dauert bis zu fünf Tage, weil es keine geteerten Straßen gibt. Vier Wochen müssen sie dort am Stück bleiben, bevor es für zwei Monate wieder nach Hause geht. Der Militärdienst ist freiwillig. Die meisten Jugendlichen nutzen diesen, da dieser eine Abwechslung zum oft eintönigen Leben in den Camps ist. Anschließend gehen sie oft zum Studieren nach Algerien, Kuba oder in wenigen Fällen auch nach Europa. Najla erzählt uns, dass nun auch eine Militärschule für Frauen eröffnet hat. Bisher haben Frauen in den bewaffneten Strukturen der Polisario nur medizinische Aufgaben übernommen. Dies scheint sich nun anscheinend zu ändern (wobei ich für eine konkrete Aussage dazu mehr Informationen bräuchte).

Nach 40 Minuten biegt unser Fahrer nach rechts ab, mitten in die Wüste. In der Ferne liegt ein flacher Gebäudekomplex. Wir sind am „Nationalmuseum des Widerstandes” angekommen. Empfangen werden wir von einem kleinen Mann in Camouflageuniform. Er sieht aus wie Mitte Sechzig. Später fragen wir ihn wie alt er ist: 46 Jahre. „Meine weißen Haare kommen vom Krieg”, sagt er. Der Krieg lässt die Menschen älter aussehen als sie sind. Auch bei meiner Forschungsreise nach Rojava habe ich immer wieder Kämpfer getroffen, die vorzeitig gealtert waren. Das Museum ist interessant, da es den nationalen Gründungsmythos der sahrauischen Befreiungsbewegung erzählt. Unser Führer ergänzt, dass dieser Ort auch deshalb gebaut wurde, um eine Gegenerzählung zur marokkanischen Propaganda zu haben. Im Eingang ist ein ca. 8×2 Meter großes Acrylbild mit den drei Gründungsvätern des sahrauischen Befreiungskampfes und Nationalismus zu sehen: Mohamed Sidi Brahim, der am 18. Juni 1970 nach friedlichen Protesten in El Ayoun festgenommen wurde und anschließend „verschwand” (sprich: im Gefängnis ermordet wurde). Al-Wali Mustafa Sayyid, geboren vermutlich 1949, Mitbegründer der Polisario und erster Präsident der DARS. 1976 wurde er im Kampf gegen Mauretanien getötet. Und drittens, Mohamed Abdelaziz, der bis zu seinem Tod im Mai 2016 der Präsident der Polisario und der DARS war. Genau wie in der kurdischen Freiheitsbewegung, fehlen auch in der sahrauischen Bewegung nationale (geographisch lokalisierbare) Symbole unter ihrer Kontrolle, sodass diese Lücke von Menschen gefüllt wird. In Kurdistan ist es Abdullah Öcalan, in der Westsahara sind es die drei Personen im Empfangsraum des Nationalmuseums. Nun geht es von Raum zu Raum, vorbei an vergilbten Bildern und verstaubten Ausstellungskästen. Der Zahn der (Wüsten-)Zeit nagt unerbittlich an den Ausstellungsgegenständen. Zwei wichtige Daten zum Merken: Am 10. Mai 1973 wird die Polisario gegründet. Zehn Tage später findet der erste bewaffnete Angriff gegen eine spanische Militärbasis statt. Der Franco-Staat war damals noch Kolonialmacht in der Region. Die endlosen Zahlen über erbeutetes Militärgut und gefangene Soldaten muss man sich hingegen nicht merken, auch wenn es beeindruckend ist, wie effektiv der Widerstand damals war. Historisch angeknüpft wird dabei an militärischen Aktionen, die bereits 1913 von Sahrauis gegen französische Soldaten ausgeführt wurden.

Der Vollständigkeit halber hier noch eine kurze Erklärung der Farben der sahrauischen Fahne, die uns im angrenzenden Raum gezeigt wird: Schwarz steht für Besatzung und Kolonialismus, weiß für Frieden, grün für die natürlichen Ressourcen. Der Halbmond und Stern repräsentieren den Islam.

Weiter geht es zu erbeutetem Kriegsmaterial: Maschinengewehre, Haubitzen, Minen, Truppentransporter und Panzer jeglicher Art. Es fällt auf, dass auch deutsche Waffen von Marokko eingesetzt wurden. Apartheid-Südafrika lieferte ebenfalls. Unser Guide erzählt mit einem Augenzwinkern, dass diese, von der Polisario erbeuteten Waffen, direkt an den bewaffneten Arm des ANC (Umkhonto We Sizwe – Speer der Nation) weitergegeben wurden.

Deutsche Waffen morden mit in aller Welt.

Von der Polisario erbeutete Panzer.

An einer Wand hängt ein großes Schaubild, dass die „Mauer der Schande”, auf Arabisch Berm genannt, zeigt. Marokko baute diesen 2720 Kilometer langen Wall in den 80er Jahren in mehreren Etappen (u.a. mit israelischer Unterstützung). Eine Seite besteht aus Steinen, die andere aus Sand. Er ist drei Meter hoch und drei Meter breit und teilt die Westsahara in zwei ungleiche Hälften (siehe oben). Mehr als 180.000 marokkanische Soldaten bewachen sie in Basen, die sich ungefähr alle fünf Kilometer in der Mauer befinden. Vor der Mauer liegen sieben Millionen Landminen, die es lebensgefährlich machen sich dem Gebilde zu nähern. Morgen geht es direkt an die Mauer in den befreiten Gebieten. Dann folgen mehr Informationen.

Am Ende kommen wir noch tiefer ins Gespräch mit dem „alten” Militär, der uns geführt hat. Seine Familie wurde 1975 ebenfalls geteilt. Obwohl er eigentlich Lehrer werden wollte, war er sein Leben lang beim Militär. Auch er sieht persönlichen nur eine militärische Lösung des Konflikts als realistisch an, auch wenn er hofft, dass es auf friedlichem Wege möglich wäre. Doch: „Wir haben uns 28 Jahre an den Frieden gehalten. Meine Hoffnung schwindet jedoch täglich. Die Vereinten Nationen schauen nur zu, wie sahrauische Frauen von Marokko eingesperrt und Demonstrationen brutal zerschlagen werden”. Zum Abschied ruft er uns noch hinterher: „Ich hoffe euch bald in einer freien Westsahara begrüßen zu dürfen”. Nachdenklich fahren wir nach Smara zurück.

Am Nachmittag treffen wir den Künstler Mohamed Sulaiman in seinem Studio, dass er im April 2016, nach der großen Flut, auf dem Grundstück seiner Familie gebaut und – mit Liebe zum Detail – eingerichtet hat (Motiv Art Studio). Er hat sich aus recyceltem Material ein eigenes, beeindruckendes Reich geschaffen und gibt Workshops für Jugendliche, wie sie mit Müll (den es im Lager zuhauf gibt) Kunst erschaffen können.

Das Atelier von Mohamed Sulaiman.

Hier findet in den nächsten zwei Stunden ein von mir geleiteter Social Media-Workshop statt, der (Medien-)AktivistInnen und jungen Mitarbeitern aus verschiedenen Ministerien der DARS zeigen soll, wie sie soziale Medien für die sahrauische Befreiungsbewegung einsetzen können. Anwesend sind zum Beispiel die Gründer von Sahrawi Voice, Mohamedsalem Werad und Fadel Sidahmed, sowie frühere Journalisten des offiziellen Sahrawi Press Service. Auch aus Irland und Italien sind zwei Journalisten dabei. Insgesamt sind es 14 Leute (darunter leider nur eine Frau), mit denen wir über die Grenzen und Möglichkeiten von Facebook/Instagram/Twitter/YouTube diskutieren. Es geht um Eigentumsstrukturen, die Zusammenarbeit von Facebook mit Marokko und der Türkei und die damit zusammenhängende Zensur. Es ist spannend, wie sehr sich die Erfahrungen in der Westsahara und Kurdistan ähneln. Aber da dieser Artikel schon viel zu lange ist und wir morgen Früh um sieben in die befreiten Gebiete aufbrechen, ist hier nun Schluss.

Social Media-Workshop im Smara-Flüchtlingslager.