Der edelste Teil des Menschen

Eigentlich sollte ich jetzt in Washington, D.C. sein und in einem klimatisierten Konferenzraum einen Vortrag zu Medienwirkung auf KurdInnen halten. Die Realität sieht anders aus. Die US-amerikanischen Behörden haben mir das Visum verweigert und damit die Teilnahme an der Konferenz der International Communication Association (ICA) unmöglich gemacht. Ein Erlebnisdokument.

1. Schritt

Es ist Anfang März. In drei Monaten findet die 69. Jahrestagung der ICA statt (24. bis 28. Mai 2019). Sicherheitshalber bewerbe ich mich jetzt schon online für ein ESTA, denn so einfach dürfte das mit der Genehmigung nicht werden. Schon beim Ausfüllen des Onlineantrags wird gefragt, in welchen Ländern man in den letzten Jahren war. In meinem Fall: auch Irak, Iran, Syrien, da das Dissertationsthema – das kurdische Mediensystem – erfordert, mit Menschen in der Region vor Ort zu sprechen. Und, zugegeben, die Hoffnung auf eine einfache Genehmigung ist nicht besonders hoch, denn von meinen politischen Aktivitäten dürften auch schon die US-Amerikaner etwas mitbekommen haben (NSA lässt grüßen). Einen Tag später, keine große Überraschung: Antrag abgelehnt, ein ausführlicher Termin im Konsulat ist nötig.

Die USA sind ein zentraler Wissenschafts- und Forschungsstandort und zugleich nicht erreichbar für Millionen von AkademikerInnen aus dem globalen Süden, deren Länder auf dem Index stehen. Also: Eintritt verboten. Ich habe einen deutschen Reisepass und damit ein Privileg. „Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen“, wusste schon Brecht. Was mir passiert ist, ist für Milliarden Menschen Alltag. 167 Länder der Welt können Menschen mit einem deutschen Pass visumsfrei bereisen. Platz zwei, nur knapp hinter den Vereinigten Arabischen Emiraten (172 Länder). Mit einem afghanischen Dokument sind es gerade einmal 30 Länder, während für 168 Staaten ein Visum benötigt wird. Die weltweite Klassengesellschaft spiegelt sich auch in diesen Zahlen. Und es geht weiter. Das US-amerikanische Büro für konsularische Angelegenheiten dokumentiert, wie hoch die Visa-Ablehnungsraten für bestimmte Länder (B-Visum, private und geschäftliche Zwecke) sind. Die Spitzenreiter 2018:

1. Somalia, 90,2 Prozent,
2. Iran, 87,66 Prozent,
3. Syrien, 77,3 Prozent.

B-Visumsanträge aus Nordkorea wurden 2018 zu 100 Prozent abgelehnt, aber vermutlich gab es von dort auch kein einziges offizielles Ersuchen. Im Vergleich dazu wurden nur 7,96 Prozent aller Anträge aus Südkorea abgelehnt – US-Verbündeter zu sein lohnt sich. Zumindest in dieser Hinsicht.

Wohlgemerkt: Es sind oft die reichen Mittel- und Oberschichten, die sich aus diesen Ländern überhaupt für ein Visum bewerben. Die Armen und Ärmsten sind ohnehin bereits ausgeschlossen. Universitäten in diesen Ländern haben oft kein Budget, um ihren ForscherInnen Reisen auf Konferenzen im Ausland zu zahlen. Auch aus der Statistik ersichtlich: Nur 7,4 Prozent der Anträge aus Deutschland wurden abgelehnt.

2. Schritt

Also mache ich mit dem US-Konsulat in München, vor dem ich 2003 gegen den Irak-Krieg demonstriert hatte, einen Termin aus. 144 Euro und seitenlange Online-Anträge später sitze ich Mitte März im Warteraum des Konsulats. Um mich herum Einwanderungswillige aus aller Herren Länder, die ihr Glück im Land der „unbegrenzten Möglichkeiten“ versuchen wollen. Als meine Nummer an der Reihe ist, werde ich von einer freundlichen Dame empfangen. Im Plauderton unterhalten wir uns über die Länder, in denen ich war, was ich dort gemacht habe und welche Pläne es nun für die USA gebe. Keine zehn Minuten später: Glückwunsch, Sie bekommen für die nächsten zehn Jahre ein Visum. Ihren Pass behalten wir noch ein und schicken ihn dann mit dem Visumseintrag zurück.

Ich wundere mich. Einem Kommunisten und kritischen Wissenschaftler einfach so die Genehmigung erteilen, ohne größere Probleme zu machen? Da kann irgendwas nicht stimmen. Wenige Stunden später erhalte ich eine E-Mail: „Es wurde festgestellt, dass Ihr Visumantrag eine zusätzliche administrative Bearbeitung erfordert. Daher lehnen wir Ihren Visumantrag gemäß Abschnitt 221(g) des United States Immigration and Nationality Act (INA) ab“.

3. Schritt

Also doch kein Visum. Stattdessen ein neues Formular mit noch mehr Fragen, die es in sich haben. Jetzt beginnt der Seelenstriptease erst richtig. Unter anderem folgende Fragen sollen beantwortet werden (übersetzter Auszug):

  • Sind Sie in den letzten 15 Jahren in ein anderes Land gereist, einschließlich aller EU-Länder (außer Ihrem Wohnsitzland)? Wenn ja, geben Sie Details zu jeder Reise an, einschließlich der besuchten Orte, des Besuchsdatums, der Geldquelle und der Aufenthaltsdauer.
  • Geben Sie den vollständigen Namen eines aktuellen oder früheren Ehepartners oder Lebenspartners an, der lebt oder verstorben ist.
  • Geben Sie alle Adressen an, an denen Sie in den letzten 15 Jahren gewohnt haben (…) – bitte geben Sie die genaue Straße und die Dauer ihres Wohnsitzes an.
  • Geben Sie alle E-Mail-Adressen an, die Sie in den letzten fünf Jahren verwendet haben, einschließlich Primär-, Sekundär-, Arbeits-, Privat- und Ausbildungsadressen.
  • Bitte geben Sie Ihren eindeutigen Benutzernamen für alle Websites oder Anwendungen (Social Media-Plattformen) an, mit denen Sie in den letzten fünf Jahren Inhalte (Fotos, Videos, Statusaktualisierungen usw.) im Rahmen eines öffentlichen Profils erstellt oder weitergegeben haben.
  • Geben Sie die folgenden Informationen über alle Arbeitgeber in den letzten fünfzehn Jahren an: Name des Arbeitgebers, Beschäftigungsdaten, Straße, Ort, Bundesland/Provinz, Postleitzahl, Land/Region, Telefonnummer, Berufsbezeichnung, Stellenbeschreibung.

Am 21. März antworte ich auf die Fragen. Auch wenn mir das im Nachhinein dumm vorkommt. Warum diese Offenlegung? Warum gibt man jegliche Privatsphäre ab, macht sich quasi rechtlos? Nur für eine weitere Konferenz, einen weiteren Vortrag, den man auf seinem akademischen Lebenslauf angeben kann?

Gebracht hat es alles nichts. Am 5. April frage ich nach. Die Antwort: „Ihr Fall wurde zur weiteren Bearbeitung eingereicht und Ihr Visum ist zu diesem Zeitpunkt ausstehend. Bitte beachten Sie, dass die zur Weiterverarbeitung überwiesenen Fälle länger dauern können und leider keine Möglichkeit besteht, sie zu beschleunigen“. Am 27. April schreibt die Geschäftsführerin der ICA eine lange E-Mail an das Konsulat, in der sie meine Integrität betont und einen weiteren Beleg für meine Konferenzteilnahme liefert. Die Antwort: „Vielen Dank für Ihre Anfrage zur Visumsbewerbung eines unserer Bewerber. Wie ich sicher bin, werden Sie verstehen, dass nach Abschnitt 222(f) des U.S. Immigration and Nationality Act Visumdateien nicht mit Dritten besprochen werden können. Insbesondere besagt dieser Abschnitt, dass ‚die Aufzeichnungen des Außenministeriums und der diplomatischen und konsularischen Vertretungen der Vereinigten Staaten über die Erteilung oder Verweigerung von Visa oder Genehmigungen zur Einreise in die Vereinigten Staaten als vertraulich anzusehen sind‘“. Unterzeichnet von: „Visa Unit“.

Seitdem keine Antwort. Fast drei Monate hält das US-Konsulat in München nun meinen Reisepass zurück und nimmt mir damit auch die Möglichkeit die EU zu verlassen. Eine Kommunikation hat es nicht mehr gegeben. Am 23. Mai, einen Tag vor Konferenzbeginn, fordere ich per E-Mail das Konsulat auf, meinen Pass auszuhändigen. Und: „Wenn das Ihr Verständnis von akademischer Freiheit ist, dann tut es mir wirklich leid.“

Wie gesagt: Dieser Fall ist einer von Tausenden. Ich komme aus dem reichen Norden. Für Menschen aus dem Süden ist dies Alltag.

Auch aus wissenschaftlicher Perspektive ist das ein Problem. Denn zu was führt allein die Antizipation einer Einreiseverweigerung in die USA bei AkademikerInnen? Zu noch größerer Konformität und der Auslassung gewisser Forschungsfelder, die zu Problemen führen könnten. Warum in Syrien, im Irak oder im Iran forschen, wenn das zu einem Einreiseverbot in die USA führen könnte? Warum sich kritisch öffentlich äußern, Mitglied einer Gewerkschaft oder linken Organisation werden, wenn das die Reisefreiheit und die eigene akademische Freiheit einschränken könnte? Zudem führt diese Visumsbarriere dazu, dass es wissenschaftliche Gedanken, Ideen, Konzepte aus ärmeren Ländern viel schwerer haben, gehört zu werden, da sie nicht auf den Konferenzen präsent sind und so nicht diskutiert werden können. Auch Netzwerke – in der Wissenschaft ein wertvolles Gut – können nicht geknüpft werden, wenn man nicht dabei ist. Die IAMCR, also die International Association for Media and Communication Research, Konkurrenzgesellschaft zur ICA (gegründet 1957, Stichwort: Kalter Krieg), findet deshalb an verschiedensten Orten der Welt statt, oft auch im Süden. Dieses Jahr in Spanien/Madrid, einem Land, in dem die Visumsbarrieren relativ niedrig sind.

Es stellt sich die Frage, ob solche Konferenzen in Zukunft noch in den USA stattfinden können. Kann die ICA, historisch eher US-zentriert, unter diesen Bedingungen noch weitere Konferenzen dort planen?

Ein Aspekt blieb bisher unberücksichtigt, sollte aber doch erwähnt werden, wenn man sich als Teil einer transformativen Wissenschaft versteht: Auch wir müssen angesichts der Klimakatastrophe unsere Gewohnheiten verändern und den „Science-Jetset“ drastisch reduzieren. Somit hat die Visumsverweigerung der US-Behörden immerhin etwas geleistet: einen Langstreckenflug weniger und damit einen Beitrag zur Schonung unseres Klimas.

 

Dieser Beitrag ist zuerst auf dem Blog Medienrealität erschienen. Die empfohlene Zitierweise lautet deshalb:

Kerem Schamberger: Der edelste Teil des Menschen. In: Michael Meyen (Hrsg.): Medienrealität 2019. https://medienblog.hypotheses.org/5855 (Datum des Zugriffs)