Es ist so anstrengend. Während Muhammed Tunc noch in Abschiebehaft sitzt und wir die Abschiebung von Heybet Sener vor zwei Wochen gerade noch so verhindern konnten, erreicht mich ein neuer Fall, der noch krasser ist. Abdulkadir Oğuz, Mitglied der HDP und in der Türkei zu 25 Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt, soll in den nächsten Tagen aus Deutschland (NRW) abgeschoben werden.
Noch sitzt er nicht in Abschiebehaft, aber er ist bereits seit Ende Januar „ausreisepflichtig“, wie es im Bürokratendeutsch heißt. Das heißt, er kann jeden Moment abgeschoben werden. Ich habe den Ablehnungsbescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BaMF) vorliegen. Es ist ein absoluter Skandal. Es wird deutlich, wie das BaMF argumentiert, um geflüchtete Menschen abschieben zu können. Das Amt ist der Meinung, dass Oğuz in der Türkei in einem rechtsstaatlichen Verfahren verurteilt wurde, seine Strafe deshalb absitzen könne und auch keiner Folter ausgesetzt sein wird. Denn: gefoltert werde laut BaMF nur auf türkischen Polizeistationen und nicht mehr in den Gefängnissen…
Es folgt eine längere Erläuterung mit Zitaten aus dem Ablehnungsbescheid: Oğuz – geboren 1985 – ist in der Türkei wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ zu mehr als 25 Jahren Haft verurteilt worden. Im November 2021 wurde das Urteil von einem türkischen Berufungsgericht noch einmal bestätigt. ANF und Arti Gercek berichten darüber.
Oğuz – der in der Türkei erst in einem Krankenhaus und später als LKW-Fahrer arbeitete – floh im April 2019 nach Deutschland und beantragte Asyl in Hessen (der Fall wurde anschließend nach Paderborn in Nordrhein-Westfalen verlegt). Auf Anraten seines türkischen Anwaltes musste er seine Heimat fluchtartig verlassen, weil er nach seiner Verurteilung Anfang 2019 kurz vor einer erneuten Festnahme stand. Erneut? Oğuz saß bereits von 2012 bis 2014 in der Türkei aus politischen Gründen in Haft.
Das BaMF argumentiert jetzt, Oğuz sei nicht Opfer politischer Strafverfolgung, sondern einfach nur ein Krimineller. Warum? Weil er in der Türkei nicht von einem Anti-Terror-Gericht, sondern von einem „normalen“ Regionalgericht verurteilt wurde. Das Amt schreibt, Oğuz habe eine „schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebietes“ begangen. Es macht sich dabei die Argumentation des türkischen Gerichtes komplett zu eigen, das behauptet, Oğuz habe 2011 und 2012 Molotov-Angriffe auf ein AKP-Büro und andere Örtlichkeiten „angeordnet“. Die „Beweise“ des türkischen Gerichts stützen sich dabei auf Aussagen sogenannter „geheimer Zeugen“. Diese werden von der türkischen Staatsanwaltschaft immer dann eingesetzt, um politische AktivistInnen zu verurteilen. Diese unbekannten „Zeugen“ bestätigen immer alles, was die Staatsanwaltschaft hören will. Meistens existieren sie jedoch gar nicht. Das ist schon mehrmals in türkischen und kurdischen Medien aufgedeckt worden. Zudem gelten als Beweise abgehörte Telefonate von Oğuz, in denen er sich mit Freunden zum Okey-Spielen in einem Kaffeehaus verabredete oder die Süßspeise Künefe essen wollte. Dies seien, so das türkische Gericht, nur Synonyme für Anschlagsplanungen. Diese Argumentation macht sich das BaMF komplett zu eigen. Außerdem sei Oğuz zu den Tatzeitpunkten nicht Mitglied der HDP gewesen und somit handele es sich nicht um politische Verfolgung – so das Bundesamt.
Das BaMF schreibt zudem, dass davon ausgegangen werden kann, „dass wichtige rechtsstaatliche Prinzipien im gerichtlichen Verfahren beachtet wurden“. Und argumentiert unter anderem allen Ernstes damit, dass die türkische Strafprozessordnung sich in ihrer Erstfassung im Jahr 1928 am deutschen Strafprozessrecht aus dem Jahr 1926 orientiere. Zudem sei es in den letzten Jahren zu positiven Justizreformen gekommen, die den türkischen Rechtsstaat gestärkt hätten. Man fragt sich, in welcher Welt die SachbearbeiterInnen des BaMFs leben.
Alle Anklagepunkte der türkischen Staatsanwaltschaft werden vom BaMF für bare Münze genommen und es wird behauptet, dass Oğuz diese wirklich begangen habe. Gleichzeitig schreibt es in Widerspruch dazu, es sei „grundsätzlich nicht Aufgabe des Bundesamtes, Urteile auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen“.
Auf S. 17 des Ablehnungsbescheids gegen Oğuz schreibt das Amt zur Situation in der Türkei – Zitat! – „Politische Oppositionelle können sich prinzipiell frei und unbehelligt am politischen Prozess beteiligen“. Man kann es kaum glauben, aber um Abschiebungen in den Nato-Partnerstaat Türkei zu rechtfertigen, ist anscheinend jede Lüge nützlich.
Das BaMF erkennt zwar an, dass Oğuz bei seinen früheren Festnahmen von der Polizei gefoltert wurde. Aber: „Es ist nicht (…) wahrscheinlich, dass der Antragssteller erneut von Folter betroffen sein wird.“ Denn, so die krude Argumentation des Bundesabschiebeamtes, nur auf Polizeistationen werde gefoltert, nicht aber in den Gefängnissen. Und da Oğuz schon verurteilt ist, käme er nach einer Abschiebung ja direkt ins Gefängnis: Es ist nicht „beachtlich wahrscheinlich, dass der Antragssteller erneut mit Misshandlungen während einer möglicherweise erneuten Inhaftierung zu rechnen hätte.“
Dass in türkischen Gefängnissen nicht gefoltert wird, ist ebenfalls eine schlichte Lüge. Das Komitee des Europarates zur Verhinderung von Folter hat noch im Mai 2021 in einem aktuellen Bericht zur Situation in türkischen Gefängnissen festgehalten, dass es dort in vielen Fällen zu schlechter Behandlung, Folter und Missbrauch komme.
Gegen Oğuz laufen derzeit noch weitere Verfahren in der Türkei Auch dieses Zitat aus dem Ablehnungsbescheid zeigt, wie brutal rational und kaltherzig das BaMF denkt: „Die Angabe des Antragsstellers, ihn würde im Falle einer Rückkehr eine Haftstrafe von 37,5 Jahren erwarten, ist indes unzutreffend, aus dem Gerichtsurteil ist ersichtlich, dass es sich um die Verbüßung einer Freiheitsstrafe von 16,5 Jahren handelt.“ Tatsächlich ist er bereits zu mehr als 25 Jahren Haft verurteilt. Dies sei aber auch notwendig, so das BaMF, weil sonst – Zitat! – „eine eindeutige Signalwirkung an die Organisation (PKK) ausbleibt“. Das BaMF rechtfertigt also – ohne Not – die drakonischen Strafen gegen politische Oppositionelle in der Türkei, damit diese auch wirklich abschreckend seien.
A pro pos PKK. Auch hier liegt das grundsätzliche Problem wieder im PKK-Verbot in Deutschland von November 1993. Das BaMF übernimmt eins zu eins die Einschätzung des türkischen Gerichts, Oğuz sei PKK-Mitglied und argumentiert dann, dass diese Organisation ja auch in Deutschland verboten sei und Oğuz deshalb – Zitat! – „eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ in der Bundesrepublik darstelle.
Am Ende des Ablehnungsbescheids hat das BaMF zynischerweise noch einen Infobrief mit Hinweisen zur „Freiwilligen Rückkehr in Ihre Heimat“ angehängt. Eine Heimat, in der Oğuz mehr als 25 Jahre hinter Gitter verschwinden würde. Was soll man dazu noch sagen. Nur das: Nicht Oğuz ist der Verbrecher, sondern die Entscheidung des Bundesamtes ist verbrecherisch. Seine Abschiebung muss verhindert werden.
PS: Falls ihr Kontakt zu Oğuz oder seinem Anwalt braucht, kontaktiert mich gerne.