Warschau – Eindrücke aus einer Stadt der Flucht und Ankunft

Freiwillige bereiten Essen für die Ankommenden vor.

Nicht mal zwei Wochen arbeite ich nun bei medico international in der Öffentlichkeitsarbeit für Flucht und Migration und schon geht es auf Dienstreise nach Polen. Dorthin, wo bereits mehr als eine Millionen Menschen vor dem brutalen Krieg Russlands gegen die Ukraine geflohen sind. Die Krisen der Welt finden nicht mehr nur weit weg, im globalen Süden, statt, sondern sie kommen nun mit voller Wucht zu uns. Die Externalisierung unserer Lebens- und Produktionsweise ist mit diesem Krieg endgültig an ihr Ende gekommen, die Folgen auch im Herzen Europas spürbar. Und das nicht nur über steigende Sprit- und Heizpreise. Viele Menschen in meinem Freundeskreis überfordert das. Wie kann man es ihnen verdenken, wenn man liest, dass die Überwachungssysteme von Tschernobyl keine Daten mehr liefern und auf dem Gelände von Europas größtem Atomkraftwerk Saporischschja nach russischen Angriffen Feuer ausgebrochen ist. Die alltäglichen Hiobsnachrichten sind nicht mehr weit weg, sie finden nun auch in unserer Nachbarschaft statt. Wie sich die europäische Linke auch angesichts der fatalen Fehleinschätzung, dass die russische Armee schon nicht angreifen werde, neu aufstellen muss, wird gerade breit diskutiert und kann hier nicht Gegenstand sein. Zwei linke Stimmen aus der Ukraine, die von Volodymyr Artiukh und von Taras Bilous, verweisen auf das, was nun (auch) zu tun ist: „ihr könnt bei der Bewältigung der Folgen dieses Krieges helfen, indem ihr Geflüchtete aus der Ukraine unterstützt und zwar unabhängig von ihrer Hautfarbe oder ihrem Pass“ (Artiukh).

Als wir – meine Kollegin Karoline Schaefer und ich – in Warschau ankommen, ist erstmal Stau. Kamala Harris ist in der Stadt und alle Wege sind blockiert. Auch die städtischen Busse stehen. Sie sind nicht nur mit der polnischen, sondern auch mit der ukrainischen Fahne beflaggt. Am Flughafen erfahren wir, dass geflohene Kinder aus der Ukraine bereits in Schulen zusammen mit ihren polnischen KlassenkameradInnen unterrichtet werden, Dolmetscher inklusive. Diese Krise zeigt: es kann auch schnell und unkompliziert gehen, wenn der politische Wille da ist. Nicht nur bei der Bewilligung von 100 Milliarden Euro Kriegskrediten für die Bundeswehr. Und während ich diese Zeilen aufschreibe, irren immer noch viele Menschen aus dem Nahen Osten bei Minusgraden im polnisch-belarussischen Grenzgebiet umher, denn für sie hat der Krieg keine Grenzöffnung bedeutet. Im Gegenteil. Es gibt mittlerweile wieder richtige und falschen Flüchtlinge. Das hat zum einen mit Rassismus zu tun. Aber auch mit einer Re-Politisierung des Flüchtlingsbegriffes: „Die EU-Grenzen sind nicht für alle Schutzsuchende offen, sondern nur für politisch Erwünschte. Für die meisten Flüchtenden aus Asien, Afrika und dem arabischen Raum bleiben sie gerade in Südeuropa weitgehend verschlossen“, wie Olaf Kleist schreibt. Schutz wird von den politischen Interessen der EU abhängig gemacht und damit in seiner universellen Gültigkeit eingeschränkt. Auch ein Zeichen für die Rückkehr zum Kalten Krieg, die wir gerade erleben. Mit dem großen Unterschied zu damals, dass nun auch Russland nicht mehr an einem Erhalt des Status quo und an Frieden interessiert ist. Übrigens macht ein Teil der polnischen Bevölkerung diese Trennung in gute und schlechte Flüchtlinge nicht mit. Schon im vergangenen Herbst leisteten viele Menschen in der Grenzregion zu Belarus Hilfe und Unterstützung und stellten sich damit gegen die PiS-Regierung und die von ihr eingesetzten Sicherheitskräfte.

Eine Lebensmittelspende für Geflüchtete wird im Museum übergeben.

Und auch wenn es sich nun in Polen meist um von der Regierung willkommene Flüchtlinge handelt, wird das Gros der Arbeit der Zivilgesellschaft aufgebürdet. In einem Gebäude des Museum of Modern Art in Warschau besuchen wir AktivistInnen, die seit Tagen Lunchpakete für die Ankommenden vorbereiten und Kisten mit medizinischen Hilfsgüter für Krankenhäuser in der Ukraine packen. Der Hauptbahnhof liegt gleich um die Ecke. Organisiert wird das unter anderem von der Fundacja Małgosi Braunek Bądź, die sich eigentlich der Gesundheitsvorsorge widmet. Der Krieg hat die Prioritäten verändert. Auch das Kunstkollektiv blyzkist ist dabei, über ihre Instagram-Seite können sich Freiwillige melden und zum Brote schmieren kommen. Es sind ihrer viele. Die Menschen, mit denen wir dort sprechen, sind von der rechten PiS-Regierung genervt: „Sie benutzen die breite gesellschaftliche Solidarität für ihre eigene Agenda, für den Stolz auf die ‚polnische Nation‘. Es ist viel Propaganda“, sagt jemand. Das gehe so weit, dass die PiS nun Druck auf die EU mache, die gegen Polen verhängten Strafgelder aufzuheben, weil sie sich nun so vorbildlich um die Flüchtlinge kümmern würden. Wer hätte gedacht, dass die Instrumentalisierung von Flucht einmal solche Blüten treiben würde. Als wir wenig später helfen, Pakete voller Hygieneartikel und Medizin zum Bahnhof zu tragen, verweist eine andere Aktivistin ironisch auf die massive Polizeipräsenz: „Das ist der einzige Weg, wie sie zur Hilfe ‚beitragen‘“. Die Regierung wolle den Fame abgreifen, ohne die Organisationen der Zivilgesellschaft, die massiv überlastet sind, zu unterstützen. Sie sonnt sich in ihrem Lichte und schmückt sich so mit fremden Federn.

Hauptbahnhof Warschau

Der Hauptbahnhof in Warschau ist überlaufen, tausende Menschen stehen in verschiedenen Schlangen an. Im ersten Stock ist aus Decken ein Bettenlager entstanden, auf dem Menschen seit Tagen verharren. Viele wissen nicht wohin. Yulia Krivich, eine Künstlerin aus der Ukraine, die seit längerem in Polen lebt, berichtet, dass sie in einem Zug eine schriftliche Umfrage unter 400 Fliehenden aus der Ukraine durchgeführt hat. 60% der Flüchtenden gaben an, nicht in Polen bleiben zu wollen. Immerhin 50% hatten ein konkretes Fluchtziel, zum Beispiel Verwandte im europäischen Ausland. Aber fast ein Drittel der Befragten hatte keine Ahnung, wohin sie nun gehen sollten. So auch eine Gruppe von Azeris aus Aserbaidschan. Ich erkenne sie am türkischen Dialekt und bin verwundert. Was machen sie hier? Es handelt sich um Bauarbeiter, die in der Ukraine gearbeitet haben. Einer von ihnen ist über 70. Seit mehr als 23 Jahren hat er dort seinen Unterhalt verdient und steht jetzt vor dem Nichts. Als die ersten Bomben auf Kiev fielen, wurden sie sofort entlassen, der ausstehende Lohn nicht gezahlt. Irgendwie sind sie in einen Zug gekommen und nun im 1. Stock des Warschauer Bahnhofs gestrandet. Geld für ein Flugticket nach Aserbaidschan haben sie nicht, die Botschaft hat sie abgewiesen. Sie seien selber dafür verantwortlich, wie sie zurückkommen. Diese Menschen sind Teil eines globalen Proletariats, das gezwungen ist dorthin zu gehen, wo es mehr verdient als zuhause. Auch wenn es nur knapp zum Überleben reicht. Nicht nur das Kapital scheint mobil, sondern auch die Arbeit: PolInnen gehen nach Deutschland, um zu Niedriglöhnen unsere alten Menschen zu pflegen. UkrainerInnen gehen nach Polen, um dort als Billiglöhner in der Landwirtschaft zu arbeiten. Und Azeris gehen in die Ukraine, weil sie dort auf dem Bau mehr verdienen als in Aserbaidschan. Sind wir uns dieser Menschen überhaupt bewusst?

Wen wir genauso wenig im Blick haben, sind Menschen, die sowieso schon (oft rassistischer) Diskriminierung ausgesetzt sind und dies für sie in Kriegs- und Krisensituationen nochmal deutlicher zu Tage tritt: Drittstaatsangehörige, Schwarze Menschen, People of Colour und auch Romnja und Roma sowie LGBTIQ-Personen. In der Ukraine leben zwischen 120.000-400.000 Roma, berichtet uns eine Roma-Aktivistin, die wir treffen. Sie will (noch) anonym bleiben, weil die Atmosphäre gerade sehr angespannt sei. Die polnische Gesellschaft habe massive Vorbehalte gegen die ankommenden Roma. Es würden viel weniger Räume bereitgestellt werden und durch das Chaos an den Grenzen, seien bereits einige Roma-Kinder verschwunden. Menschenhandel – auch das ist eine grausame Realität von Krieg und Flucht, der wir in den kommenden Tagen ebenfalls nachgehen wollen.