Wer einen Eindruck von der Ungleichbehandlung von „richtigen“ und „falschen“ Kriegsflüchtlingen bekommen will, der muss nur einen Blick auf den Twitter-Account des polnischen Grenzschutzes werfen. Zwei Arten von Tweets wechseln sich dort ab. Zum einen werden dort täglich Zahlen dazu genannt, wie viele weitere Menschen vor dem russischen Krieg in der Ukraine über die Grenze nach Polen geflohen sind. Beim Schreiben dieses Beitrags sind es1,596 Millionen Menschen. Zum anderen werden täglich Erfolge bei der Abwehr „illegaler“ Flüchtlinge aus Belarus vermeldet und Fotos durchschnittener Grenzzäune getweetet, betitelt etwa mit: „Am 11. März versuchten 46 Ausländer illegal auf polnisches Territorium zu gelangen. Sie warfen Steine und Baumstämme auf die Grenzschützer. 26 Migranten wurden festgenommen.“ Die ungleiche Behandlung ist himmelschreiend.
Jenseits von StaatsakteurInnen gibt es in Polen aber eine aktive, progressive Zivilgesellschaft, die versucht die Lücken zu füllen, die der Staat lässt und ihn gleichzeitig dafür kritisiert. Ich scheue mich den Begriff „Soziale Bewegung“ in den Mund zu nehmen, da dieser vermutlich etwas zu groß wäre. Nach zwei Tagen Warschau haben wir den Eindruck, dass sich hier alle relevanten AkteurInnen untereinander kennen. Von der LGBTIQ-Organisation Lambda Warszawa, dem Feminist Fund über das Ukrainski Dom, das Ukrainische Haus – man kennt sich und hält zusammen, auch weil der Druck von oben groß ist.
Eine Mitarbeiterin vom Feminist Fund erzählt, dass sie sich 2018 nach dem Anti-Gender-Backlash der PiS-Regierung und der Kürzung von Geldern für die Zivilgesellschaft gegründet haben. Sie unterstützen FeministInnen, LGBTIQ-Aktivitäten undGeflüchtete auf möglichst unbürokratische Art und Weise. Denn die AktivistInnen vor Ort wüssten selber am besten, was gebraucht werde. Gerade unterstützen sie etwa eine Organisation, die versucht, Menschen mit Behinderungen aus den Kriegsgebieten in der Ukraine zu bringen. Sie sehen sich dabei als Teil der Bewegung und haben deshalb gerade entschieden, ihr eigenes Büro für Geflüchtete zu öffnen und als Unterkunft anzubieten.
Offene Wohnungen und Häuser sind Ausdruck einer Welle der Solidarität, die momentan durch die polnische Gesellschaft geht. Doch viele mit denen wir sprechen, sehen das auch kritisch. Ein queerer Aktivist von Lambda Warszawa. Er sagt, dass der Solidaritätsbegriff bei vielen Pol:innen sehr beschränkt auf eine spezielle Gruppe sei, nämlich auf ukrainische Frauen und Kinder. Es sei gerade regelrecht „in Mode“, mit den aufgenommenen Ukrainerinnen in den Sozialen Medien zu prahlen. Menschen, die im herrschenden Diskurs ausgeklammert werden – etwa Roma-Familien, Schwarze und andere People of Colour – hätten es hingegen nicht so leicht. Ihr Fokus ist es, den „Ausgeschlossenen unter den Ausgeschlossenen“ zu helfen, wie der Aktivist sagt. Und so hat sich die traditionsreiche queere Organisation in ihrem 25. Jahr derzeit voll auf die humanitäre Krisensituation eingestellt. Wohnungen werden vermittelt, Gutscheine für Klamotten und andere Dinge des täglichen Bedarfs ausgegeben und am Sonntag soll bereits kostenloser Sprachunterricht für die Flüchtenden angeboten werden. Dabei ist Inklusivität ein Grundprinzip. Niemand werde ausgeschlossen. Und so packt Lambda derzeit auch Brotzeiten für am Bahnhof ankommende Menschen. Und zwar für alle. Viele AktivistInnen, mit denen wir sprechen, regen sich darüber auf, dass parallel zur Willkommenskultur die Grenze zu Belarus von der polnischen Regierung abgeriegelt wird und es von dort gerade so gut wie niemand rüber schafft. Teilweise irrten dort seit Tagen Menschen in den Wäldern umher, wie uns eine andere Aktivistin berichtet.
Besonders sichtbar ist die humanitäre Krise derzeit in den Vereinsräumen von Ukrainski Dom, einer Organisation, die vor Jahren von in Polen lebenden UkrainerInnen gegründet wurde. Und das sind gar nicht so wenige. Vor Kriegsbeginn lebten etwa eine Millionen in Polen, nur 200.000 hatten jedoch eine langfristige Aufenthaltsgenehmigung. Für die anderen gab es nur eine Arbeitsgenehmigung, an die der Aufenthalt gebunden war. Oder sie waren illegal im Land und als billige Arbeitskräfte in verschiedenen Sektoren im Einsatz. Ohne sie könnte die polnische Wirtschaft gar nicht überleben, berichtet uns die Anwältin und linke Politikerin Monika Platek.
Als wir Ukranski Dom besuchen, sind die Räumlichkeiten überfüllt. Dutzende geflohene Ukrainerinnen stehen Schlange, um eine SIM-Karte zum Telefonieren zu erhalten, oder – noch wichtiger – eine Unterkunft vermittelt zu bekommen. Dies ist gerade die Hauptaufgabe des Vereins, berichten uns zwei engagierte MitarbeiterInnen, die massiv überarbeitet sind und seit Kriegsbeginn nur wenig geschlafen haben – auch sie haben Familie in der Ukraine, um die sie sich sorgen. Sie kritisieren ebenso, dass die Hilfsbereitschaft in Polen sich vor allem auf ukrainische Frauen und Kinder konzentriert und andere Gruppen gerade nur sehr schwer eine Unterkunft finden. Auch aus anderen Ländern gebe es zwar Unterstützungsangebote für die Unterbringung von Flüchtenden aus der Ukraine, aber die Helfenden im Ukrainski Dom haben gerade nicht die Kapazitäten ihre Seriosität zu überprüfen. Sie fürchten Menschenhandel und Entführungen. Von ersten Fällen verschwundener Kinder hatte uns auch eine Roma-Aktivistin erzählt und Homo Faber, eine polnische Hilfsorganisation in Lublin, berichtet heute im Guardian davon.
Die selektive Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung hat zum einen mit strukturellem Rassismus zu tun, aber auch damit, dass einfach niemand damit gerechnet hat, dass Schwarze und PoC auf einmal an der Grenze ankommen. Selbst ein Ghanaer, der seit fünf Jahren in Polen lebt und arbeitet und Busse organisiert hat, um die Ankommenden weiter nach Deutschland zu bringen, war überrascht als er erste Anrufe von der Grenze bekommen hat. Erst später habe er realisiert, dass aufgrund der historischen Verbindung zwischen der Sowjetunion und vielen afrikanischen Ländern auch heute noch viele Menschen von dort in der Ukraine studierten. Zudem sei es bezahlbar und trotzdem nah an der EU, sodass viele Familien lange sparen, um ihren Kindern ein Studium in der Ukraine zu finanzieren. Er berichtet uns auch von einem rassistischen Mob, der beim polnisch-ukrainischen Grenzübergang in Medyka versucht habe, Jagd auf Schwarze und andere PoCs zu machen. Sogar Waffen hatten sie dabei und riefen „Go back where you come frome!“ Samuel ist jedoch wichtig zu betonen, dass dies nur ein kleiner Teil der polnischen Gesellschaft sei und die meisten Fliehenden willkommen geheißen würden. Die Frage ist, wie lange noch. Wer bei all dem vergessen wird, sind die Menschen, die im polnisch-belarussischen Grenzwald festhängen. Und dorthin wird es uns als nächstes führen.