Afrin in Qamischli – 11.03.18

Afrin – die fünf Buchstaben des Kantons prägen derzeit ganz Rojava und darüber hinaus. Dschihadisten sämtlicher Couleur stehen kurz vor der Stadt. Auf Fotos der Islamisten im Internet ist das Zentrum in der Ferne sichtbar. In der Stadt befinden sich bis zu 800.000 Menschen. Neben den Bewohnern auch Flüchtlinge der Dörfer, die bereits besetzt wurden. Um die 3000 Eziden mussten sich zum Beispiel in den Schutz der Stadt flüchten. Videos zeigen Erdogans Proxy-Söldner, wie sie in ihren Dörfern einfallen und die Geflohenen als „Schweine“ und „Ungläubige“ beschimpfen. Bilder, die an Aufnahmen aus dem Jahr 2014 im Shengal-Gebiet erinnern. Damals hieß es noch „Islamischer Staat“, heute „Freie Syrische Armee“. Vom Inhalt her ist es jedoch praktisch das selbe.

„Wie kann der Westen zu so etwas schweigen?“ Diese Frage bekomme ich in den letzten Tagen von der Bevölkerung in Qamischli oft gestellt. Ungläubig wird dabei der Kopf geschüttelt. Von langjährigen Aktivisten der kurdischen Freiheitsbewegung kommt sie allerdings nicht. Diese wissen, dass das gesamte Projekt Rojava den imperialistischen Großmächten stets ein Dorn im Auge war. Die Zusammenarbeit im Kampf gegen den IS war taktischer, aber nie strategischer Natur. Politischen Einfluss auf die gesellschaftliche Umgestaltung hatte die militärische Kooperation hier nicht, das kann ich hier selbst sehen.

Als am Abend des 10. März die Nachricht kam, dass die Dschihadisten kurz vor Afrin stehen, ging auch durch Qamischli ein Ruck. Jugendliche zogen durch die Straßen und hämmerten gegen die geschlossenen Rollläden der Geschäfte. Am nächsten Tag startete in der Früh ein neuer Konvoi von Zivilisten, die Richtung Afrin fahren, um die dortige Bevölkerung zu unterstützen. Die Türkei behauptet, es handle sich bei diesen Konvois um militärischen Nachschub. Bereits vor einigen Wochen bombardierte sie deshalb einen der langen Autozüge, es gab Tote und Verletzte. Als jetzt die Wagenkolonne im Heleli-Viertel am Stadtrand startet, sind tausende Menschen gekommen um ihn zu verabschieden. Es befinden sich keine Kämpfer und keine Waffen darunter, die Reisenden sind vor allem ältere Frauen und Männer, die mit Victory-Zeichen aus der Stadt fahren. Die Stimmung ist kämpferisch – trotz alledem.

Anschließend findet eine große Demonstration durch die Stadt statt. Menschen jeglichen Alters und Herkunft sind vor Ort, selbst eine Gruppe Feuerwehrmänner befindet sich unter den Demonstranten. Die Spitze, aber auch fast der gesamte Rest der Demonstration besteht aus Frauen. Sie bestimmen das Straßenbild bei dieser politischen Aktion. Die Geschäfte, an denen wir vorbeiziehen, sind geschlossen. Sie haben aus Protest gegen den Kriegt heute nicht geöffnet.

Ich beobachte auf der Demonstration vor allem das Vorgehen der anwesenden Journalisten. Die Nachrichtenagentur ANHA ist natürlich dabei, genauso wie Ronahi TV, Nuce Ciwan und weitere Medien, die der Freiheitsbewegung oder der Selbstverwaltung nahestehen. Doch auch andere kurdische Medien sind vor Ort. Neben Kurdsat auch K24 und seit neuestem Rudaw. Die beiden letzteren stehen in der politisch polarisierten kurdischen Medienlandschaft der Kurdistan Democratic Party aus Südkurdistan nahe, die Rojava gegenüber eher feindlich eingestellt ist und es als Konkurrenz für ihr  Nationalstaatsprojekt sieht. Als die KDP der Nachrichtenagentur Roj News in dem von ihr kontrollierten Gebiet um Erbil und Dohuk in Südkurdistan verbot zu berichten, zog die Selbstverwaltung des Kantons Cizire in Nordsyrien nach und verweigerte Rudaw-Journalisten im August 2015 die weitere Akkreditierung*. Bis vor fünf Tagen war Rudaw daraufhin in Rojava nicht vertreten. Auf ein erneutes Ersuchen des KDP-Mediums, das eng mit der Familie Barzanis verbunden ist, reagierte die Selbstverwaltung nun aber Anfang März positiv und so war auf der Demonstration auch ein Rudaw-Journalist anwesend und filmte. Grund für die Erlaubnis wird auch der Angriffskrieg auf Afrin gewesen sein, der zu einem Zusammenrücken aller kurdischen Kräfte geführt hat. Es wird deutlich, dass die Politik in Kurdistan einen starken Einfluss darauf hat, wie Journalismus funktioniert und Journalisten arbeiten können. Das ist bereits bei meiner Forschungsreise nach Südkurdistan im März 2017 deutlich geworden.
Auf der heutigen Demonstration waren auch kurdische Journalisten anwesend, die für AFP und Reuters filmen und fotografieren. Ich fragte sie, wie ihre Arbeitsbedingungen sind und der AFP-Vertreter hob hervor, dass es hier keinerlei Probleme gäbe und sie ohne Hindernisse arbeiten könnten. Da sie für ausländische Medien arbeiten, liegen sie nicht im Fokus meiner Forschung. Doch mit den K24 und Rudaw-Journalisten sind Nummern ausgetauscht und in den nächsten Tagen hoffe ich sie interviewen zu können.

Kurdische Journalisten bei der Arbeit

Im Anschluss geht es zurück ins große Mediengebäude der Stadt. Direkt neben der PYD-Parteizentrale, in einer abgeriegelten und streng bewachten Seitenstraße im Stadtzentrum steht ein vierstöckiger Neubau. Die Sicherheitsvorkehrungen sind deshalb stark, weil es im Juli 2016 einen schweren IS-Bombenanschlag mit einem LKW und einem Motorrad in der Gegend gegeben hatte. Damals starben 55 Menschen, mehr als 250 wurden verletzt. In dem Gebäude sitzt die große kurdisch-syrische Nachrichtenagentur ANHA, die Zeitung Ronahi und die Rojava-Vertretung von ANF. Außerdem sitzen hier viele Übersetzer, die die jeweiligen Nachrichten ins Türkische, Kurdische (Sorani oder Kurmandschi) und Arabische übersetzen. Teilweise sind es bis zu 70 übersetzte Nachrichten am Tag, die alleine die zwei Übersetzerinnen für ANHA ins Türkische übersetzen. Interessanterweise wird die türkische Version der ANHA-Webseite mehr geklickt, als die kurdische.

Die Auswirkungen des Bombenanschlags vom Juli 2016 sind noch deutlich zu sehen – hier ein schwerbeschädigtes Gebäude

Am Nachmittag habe ich im Gebäude ein Interview mit Hayri Baran, dem Chefredakteur der Ronahi-Zeitung. Sie erscheint nur zwei Mal die Woche jeweils in einer kurdischen und einer arabischen Ausgabe. Letztere ist dabei doppelt so dick wie die kurdische. Das liegt daran, weil die meisten Menschen zwar kurdisch sprechen, aber in der Schule zu Regime-Zeiten nur arabisch lesen gelernt haben. Außerdem sind insbesondere auch Araber in der Zielgruppe der Zeitung. Eigentlich könnte die Zeitung jeden Tag zu erscheinen, so Baran. Allerdings gebe es keine einzige geeignete Druckmaschine in Rojava. Die jetzigen Ausgaben werden mit Druckern hergestellt, die eigentlich auf Bücher und Zeitschriften ausgerichtet sind. Ein Besuch bei der jetzigen Druckerei steht noch an.

Werbung für die kurdische und arabische Ausgabe der Zeitung „Ronahi“

Am Abend steht noch ein zweites Interview an und zwar mit dem Journalisten Mustafa Mamay. Er ist der Vertreter der gesamtkurdischen Nachrichtenagentur ANF in Rojava und sitzt im obersten Stockwerk des vorhin beschriebenen Gebäudes. Wir kennen uns schon länger. Letztes Jahr, als ich in Sulaymaniyah geforscht hatte, war er noch bei Roj News tätig. Seit einigen Monaten ist er jetzt bei ANF in Rojava. Außerdem bin ich in seinem Zimmer untergekommen. Er teilt sich mit einigen Journalisten von Ronahi TV und ANHA ein kleines Haus im Armenviertel Heleli, in der die Unterstützung für die Freiheitsbewegung und die Selbstverwaltung besonders groß ist. Auch ich wohne in meiner Rojava-Zeit meistens hier. Mustafa studierte in der Türkei Radio- und Fernsehproduktion, konnte sein Studium allerdings nicht fertigbringen, da er aufgrund von politischen Aktivitäten immer wieder im Gefängnis saß. Insgesamt war er drei Jahre inhaftiert, bevor er sich entschied das Land zu verlassen. Ein Schicksal, das hier relativ viele Journalisten teilen, die ich in den Gängen des Medienhauses treffe.

Während diese Zeilen geschrieben werden, kommen Nachrichten von weltweiten Protesten für Afrin. In München, meiner Heimatstadt, wurde der Hauptbahnhof symbolisch besetzt.

Mein Aufruf: macht weiter mit spektakulären Aktionen. Jede einzelne Demonstration wird hier in Rojava wahrgenommen, die Menschen sprechen darüber und sie geben den Aktivisten und Kämpfern Mut. Nichts von dem was ihr in Europa macht ist also umsonst!

 *Im August 2016 wurde der Roj News-Journalist Wedat Hussein auf KDP-Gebiet mutmaßlich Sicherheitskräften inhaftiert, gefoltert und ermordet. Mehr Infos hier: http://kerem-schamberger.de/2017/03/18/journalismus-und-newroz-fest-im-gedenken-an-wedat-hussein/