Farkha – Wir kommen wieder! (Tag 8 & 9)

Es ist Samstag früh 07:15 Uhr, der Wecker klingelt. Doch das Aufstehen fällt nach sieben Tagen Festival und harter Arbeit nicht mehr leicht. Niemand bewegt sich. 15 Minuten später läuft Baker, der Festival-Organisator, durch die Gänge der Schule und hämmert gegen die metallenen Türen. Dabei ruft er mit dröhnender Stimme „Yalla ya Shabab“ (auf Deutsch in etwa: „Auf geht´s Jungs“). Ein Spruch, der vor allem den Internationalisten nicht mehr so schnell aus dem Kopf gehen wird. Müde schleppen wir uns in den Schulhof. Erst als ich das Lied „Rojbas Gerilla“ über die Boxen auf volle Lautstärke drehe, kommt Stimmung auf. Muhammad Ali, ein Genosse aus Farkha kommt grinsend auf mich zu getanzt. Er saß 10 Jahre im israelischen Gefängnis, weil er auf Arbeitssuche illegal nach Israel gegangen ist und dabei erwischt wurde. Solche Geschichten hört man auf dem Festival überall. Ein anderer Genosse aus Tulkarm saß zwei Jahre in Haft, weil er Steine auf israelische Besatzungssoldaten warf. Zwei Tage zuvor saß bei einer Abendveranstaltung hinter mir ein Jugendlicher, der eine riesige Narbe am Hals hatte. Auf Nachfrage erzählt er mir, dass er bei Protesten in Nabi Saleh von Soldaten angeschossen worden und nur knapp mit dem Leben davongekommen war. Brutaler Besatzungsalltag in der Westbank.

„Resist to Exist“ – Wandmalerei in Nablus.

Für die Internationalisten geht es am letzten Tag des Festivals ausnahmsweise nicht in den ökologischen Garten, sondern nach Nablus. Dort werden wir vom örtlichen Büro des Jerusalem Legal Aid Centre auf einen Stadtrundgang eingeladen. Auf der Fahrt in die Stadt kommen wir an zwei Checkpoints sowie einer großen Militärbasis inklusive Haftanstalt der israelischen Besatzungsarmee vorbei. Dort werden immer wieder palästinensische Jugendliche eingesperrt, die sich an Protestaktionen beteiligten und auf ihren Prozess vor einem Militärgericht warten. Direkt an die Stadt angrenzend liegt das Balata Camp. Seit 1948 leben dort mittlerweile bis zu 40.000 Menschen, die zuvor aus anderen Gebieten Palästinas vertrieben wurden. Es ist das größte Lager in der Westbank, das mittlerweile eher einer eigenen Kleinstadt gleicht, mit unzähligen verschachtelten Straßen. Die Armut ist hier besonders groß.

Eine von zwei verbliebenen Seifenfabriken in Nablus.

Nablus selbst hat im Zentrum 150.000 und mit Umgebung um die 250.000 Einwohner. Die Stadt ist auch als „Hauptstadt des Widerstandes“ bekannt (schon Napoleons Armee soll hier geschlagen worden sein). „20% aller politischen Häftlinge und Märtyrer sind aus Nablus“, sagt Majdi, unser Begleiter an diesem Tag. Die Stadt ist aber auch eines der wirtschaftlichen Zentren der Region, vor allem Seife und Wohnmobiliar wird hier hergestellt. In der zweiten Intifada Anfang der 2000er Jahre, belagerte die israelische Armee die Stadt und zerstörte gezielt auch die Wirtschaftsbetriebe, um dem Leben in der Stadt die Grundlage zu entziehen. Doch heute pulsiert sie wieder, im Zentrum herrscht ein geschäftiges Treiben. Ein professioneller Reiseführer, der gleichzeitig auch Genosse ist, führt uns durch die verwinkelte Altstadt, zeigt uns eine Seifenfabrik und einen Laden, in dem die traditionelle Süßspeise Künefe hergestellt wird. Doch der Schwerpunkt der Tour liegt auf der Darstellung der politischen Situation und der Auswirkungen der zweiten Intifada auf die Stadt. 2002 wurden von der israelischen Armee, teilweise ohne die Familien vorher zu informieren, zahlreiche Häuser zerstört. Dutzende Zivilisten starben.

Nachmittags fahren wir nach Farkha zurück. Heute findet dort die Abschlussveranstaltung statt. Im Hintergrund der Bühne ist ein großes Transparent angebracht, auf dem auch der marxistischen linken für ihre Unterstützung gedankt wird. Ein schönes Zeichen der gegenseitigen Solidarität. Neben Tanzeinlagen, einer Band und vielen Reden, spricht auch der Botschafter Venezuelas. Es hängt eine große Fahne des Landes am Rande der Bühne. Die Entwicklung der bolivarischen Revolution ist äußerst widersprüchlich. Das Land steckt in einer tiefen wirtschaftlichen und politischen Krise, bei Protesten kommt es von beiden Seiten immer wieder zu Gewalt. Für unsere Delegation besonders schwer: die öffentlich zelebrierte Freundschaft zwischen Nicolas Maduro und Recep Tayyip Erdogan. Es ist verständlich, dass ein Land, das sich der vom Westen vorgegebenen neoliberalen Wirtschaftspolitik versperrt, alternative Handelspartner suchen muss, so wie dies Hugo Chavez vor seinem Tod auch mit dem Iran gemacht hat. Unverständlich sind für uns aber die zahlreichen Freundschafts- und Solidaritätsbekundungen der beiden Präsidenten. Am 9. Juli wohnte Maduro sogar der Amtseinführung Erdogans bei und besuchte zugleich das Fernsehset seiner türkischen Lieblingsserie „Dirili?: Ertu?rul“. Darin wird der Gründungsmythos des Osmanischen Reiches gefeiert. Sie dient heute dazu auf die „ruhmreiche“ Geschichte der Türken zu verweisen, deren Fortsetzung sich heute angeblich in Erdogan personalisiert. Verständlich ist natürlich auch, dass die Palästinenser momentan jede Solidaritätsbekundung mit Wohlwollen aufgreifen. Venezuela hat dabei seit 1998 immer an ihrer Seite gestanden.

 

Abschiedsfoto mit YPJ-Fahne.

In seiner Abschlussrede verkündet Baker, dass das 26. Farkha-Festival vom 2.-9. August 2018 stattfinden werde. Sollte es unter den LeserInnen dieser Blogbeiträge Interesse an einer Teilnahme geben, könnt ihr uns gerne unter kerem.schamberger (at) gmx.de kontaktieren.

Am Ende der Veranstaltung ist die Stimmung gedrückt, viele umarmen sich, tauschen Nummern aus oder schießen Selfies mit liebgewonnenen Freunden. Die Verabschiedung ist intensiv, niemand weiß, wann und wie man sich wieder sehen wird. Ein Besuch auf einer Demonstration kann tödlich enden und so will man sichergehen, dass man sich zumindest jetzt gut verabschiedet hat.

Sonntag ist Aufräumtag. Die Schule, in der wir alle untergekommen sind, wird geputzt, der Innenhof gereinigt. Anschließend fahren wir Internationalisten ins Nachbardorf Nabi Saleh, dort kommt die 17-jährige Ahed Tamimi nach fast 8 Monaten im Gefängnis frei und wir wollen sie begrüßen. Das Medieninteresse ist riesig, als die junge Frau mit den langen blonden Haaren im Dorf ankommt. Umringt von dutzenden Kameras erklärt sie: “Die Macht liegt beim Volk und das Volk wird über sein Schicksal entscheiden. Frauen sind ein wichtiger Teil des Widerstands in Palästina. Und der Widerstand wird weitergehen.“

Auf der Pressekonferenz zur Freilassung von Ahed Tamimi.

Passender könnte die Zeit des Festivals, die Zeit in Palästina nicht zu Ende gehen. Es bleibt nur noch zu ergänzen: „Und wir kommen wieder – zum 26. Farkha-Festival im August 2019!“

Danke für diese tolle und lehrreiche Zeit!

Autor: Kerem Schamberger

Fotos: Kerem Schamberger

Wandmalerei in Nablus.