Eine der letzten Forschungsreisen im Rahmen meines Dissertationsprojekts zum kurdischen Mediensystem führt mich nicht in einen weiteren Teil Kurdistans sondern für zwei Tage in die Nähe von Brüssel. Knapp 20 Kilometer von der belgischen Hauptstadt entfernt liegt das beschauliche Denderleeuw mit 20.000 EinwohnerInnen. In einem großen Fabrikgebäude am Fluss Dender sind dort die Studios von Medya Haber und Sterk TV untergebracht. Zwei zentrale Fernsehsender, die politisch der kurdischen Freiheitsbewegung nahestehen.
Mehr als 100 MitarbeiterInnen arbeiten vor Ort und stellen ein 24-stündiges Fernsehprogramm sicher, das vor allem aus Informationen besteht. Medya Haber ist ein Nachrichtenkanal, der auf Türkisch sendet, Sterk TV hingegen auf Kurdisch. Beide stehen in der Tradition von Med TV, dem ersten kurdischen Sender, der 1994 in London gegründet wurde und bis 1999 sendete. Dann wurde er verboten. Es folgte Medya TV (Verbot 2004), Roj TV (Verbot 2012), MedNuce (indirektes Verbot durch Entzug der Satellitenlizenz 2016). Alles Verbote, die auf türkischen Druck hin in Europa erlassen wurden. Der Terrorvorwurf lässt auch in europäischen Ländern den Raum des Sagbaren enger werden. Und: die Geschäfte mit der Türkei sind im Zweifel wichtiger als auf kurdische Befindlichkeiten Rücksicht nehmen zu müssen.
Die Sendernamen haben sich in den letzten zwanzig Jahren zwar geändert, die Räumlichkeiten in Denderleeuw sind jedoch die gleichen geblieben. Man lässt sich die Stimme nicht verbieten, weder in der Türkei noch im Westen. Und auch nicht durch den Islamischen Staat, der in Emails den beiden Sendern gedroht hat. Entsprechend sind die Sicherheitsvorkehrungen am Eingang der Studios. Viele der dort arbeitenden kurdischen Journalisten haben bereits in ihrer Heimat als Berichterstatter gearbeitet und saßen dafür jahrelang im Gefängnis. Fuat Kav zum Beispiel, ein Urgestein des kurdischen Journalismus, der mich als erstes empfängt. Er wurde nach dem Militärputsch im September 1980 zum Tode verurteilt und erst nach 20 Jahren, sechs Monaten und sechs Tagen Haft im Jahr 2000 entlassen. 2003 musste er aufgrund des andauernden Drucks ins Exil nach Europa gehen. Seitdem arbeitet er hier. Er ist einer der philosophischen Köpfe hinter den Medien, die der Freiheitsbewegung nahestehen. Wir diskutieren über Moral und Objektivität im Journalismus, Themen, die in Gesprächen mit kurdischen Journalisten immer wieder aufkommen. Auch in den Fernsehstudios wird versucht die Philosophie Abdullah Öcalans umzusetzen. Ein Beispiel: geleitet werden die Fernsehsender von jeweils einem Mann und einer Frau. Für Medya Haber ist das zum Beispiel Heval Aslan.
Die 1977 geborene Journalistin hat in Frankreich studiert und in Metz ihren Master abgeschlossen. Das Thema der Abschlussarbeit: journalistische Objektivität. Jetzt ist sie Nachrichtenchefin von Medya Haber. Aslan ist, wie in Kurdistan auch, eine der wenigen, die Journalismus an der Universität studiert hat. Auch in Denderleeuw haben die meisten ihren Beruf „learning by doing“ erlernt. Das macht sich natürlich nicht zu „schlechteren“ Journalisten. Im Gegenteil: für viele waren ihre Lebensbedingungen, der Krieg in Kurdistan, Grund, diese Realität mit Leidenschaft an die Öffentlichkeit zu bringen. Viele saßen dafür im Gefängnis und wurden gefoltert. Die meisten erhalten keinen monatlichen Lohn, sondern nur das Nötigste. Journalismus ist hier auch Aktivismus, für den man nicht bezahlt werden will.
So auch für Hayrettin Celik, Moderator bei Sterk TV. Er arbeitet seit 1991 als Journalist, war bei den ersten kurdischen Tageszeitungen mit dabei. Am 3. Dezember 1994 werden die Redaktionsräume der „Özgür Ülke“ in Istanbul und Ankara bombardiert. Hayrettin ist bereits zuhause, als ihn die schlimme Nachricht erreicht. Sein Kollege Ersin Yildiz und 23 weitere Mitarbeiter haben weniger Glück. Sie werden teilweise schwer verletzt. Was Hayrettin dann berichtet, steht in keinem Geschichtsbuch:
„Die angerückte Feuerwehr löschte den Brand nicht. In einem oberen Stockwerk waren Kollegen von den Flammen eingeschlossen, doch die Feuerwehr sagte sie müsse auf die Polizei warten, bevor sie einschreiten können.“ Die Folge: die Eingeschlossenen mussten sich über die Stahlhaltekabel eines neben dem Haus stehenden Strommasten selbst in Sicherheit bringen und „abseilen“. Der raue Stahl führt beim Herabrutschen zu tiefen Fleischwunden in den Handinnenflächen. „Ihre Hände sahen aus wie zerstückelt“, sagt Hayrettin. Doch das ist noch nicht alles. „Das Krankenhaus, in das die Verletzten eingeliefert wurden, wurde von einem MHP-Anhänger geleitet. Er verweigerte die Behandlung der kurdischen Journalisten und sagte, erst müsse die Polizei ihre Aussagen aufnehmen. Doch meine Kollegen lagen schwerverletzt auf den Baren im Eingangsbereich des Krankenhauses“. Ersin Yildiz, der bei der Einlieferung noch lebte, starb in dieser Zeit. Erst als kurdische Ärzte aus anderen Krankenhäusern gerufen wurden und trotz des Widerstandes des Leiters einschritten, wurde mit der Erstversorgung begonnen. Beide Räumlichkeiten der Zeitung in Ankara und Istanbul brannten vollständig aus. Dennoch gelang es den nicht verletzten Journalisten am nächsten Tagen eine vierseitige Ausgabe herauszubringen.
Die Überschrift: „Dieses Feuer wird auch euch verbrennen!“ Die Prozesse, die in der Türkei wegen unterlassener Hilfeleistung und den Anschlägen selbst im Anschluss geführt wurden, verliefen alle ins Leere. Keine Schuldigen, keine Verurteilungen.
Die vielen Gespräche, die ich hier führe, brennen sich ins Gedächtnis ein. So auch die Geschichte des iranischen Kurden Kakshar Oramar. Er war Mitte der 1990er vier Jahre im Iran eingesperrt, weil er als Student in Urmia politisch aktiv war und Bücher kurdischer Politiker per Hand abgeschrieben und an der Universität verteilt hatte. Von den 48 Monaten seiner Haft war er nur drei im regulären Gefängnis. Die restliche Zeit war er in den Folterkellern des Geheimdienstes eingesperrt. Die Folgen sind heute noch zu erkennen. Über Umwege kommt er nach Europa und arbeitet seit 1998 in den Medien der kurdischen Freiheitsbewegung. 2010 stürmt die belgische Polizei das Sendegelände. Kakshar kommt zur Arbeit und sieht, wie 300 Polizisten in Denderleeuw auch sein Büro durchsuchen. Ein Trauma. „Einen Monat befand ich mich in einer Art Depression, ich konnte nicht aus dem Haus gehen“. Erinnerungen an seine Haftzeit im Iran werden wach. Neben ihm steht Hayrettin Celik, der 1994 den Bombenanschlag auf seine Zeitung überlebt hat. Beide sehen sie von der anderen Seite der Dender, wie die Polizei Computer und Akten beschlagnahmt. Nicht wirklich vorstellbar, was in den Köpfen dieser Journalisten vorgeht, die vor der Verfolgung in ihrer Heimat hierher geflohen sind und jetzt wieder drangsaliert werden.