„Dort auf dem Hügel bauen wir die Solarenergieanlage“. Mahmouds Finger deuten zu einem grünen Hügel auf dem ein Bagger steht. Dort wo auch der Friedhof von Farkha liegt, den wir auf vergangenen Festivals schon gereinigt hatten. Mahmoud ist einer der sechs Söhne und zwei Töchter von Bakir, dem Festivalorganisator. Bakir hat vom großen Tawfiq Ziyad gelernt, der in den 1970er Jahren als kommunistischer Bürgermeister von Nazareth bereits Freiwilligenarbeiten und Camps mit tausenden Menschen organisiert hatte. Letztes Jahr träumten sie in Farkha noch von einer autonomen Energieversorgung des Dorfes, jetzt sind die Bauarbeiten in vollem Gange. Wenn die Solarenergieanlage fertig ist, soll sie nicht nur Farkha, sondern drei weitere Dörfer mit Energie versorgen, finanziert durch Kredite und die Unterstützung der Autonomiebehörde. Das besondere an Farkha und Bakirs Familie: hier wird nicht nur geredet, sondern gehandelt. Jedes Jahr gibt es einen Fortschritt, der sich sehen lassen kann.
Mahmoud ist gerade dabei uns durch den alten Kern seines Heimatdorfes Farkha zu führen. Hier stehen die Ruinen von Häusern und Ansiedlungen, die hunderte, wenn nicht mehr als tausend Jahre alt sind. Und es zeigen sich frühe Ansätze eines kommunalen Lebens. So wurde die tägliche Milchproduktion der Schafherden früher an jedem Tag an eine andere Familie des Dorfes aufgeteilt. Diese hatte dann die Aufgabe für alle Käse und Joghurt herzustellen. Anderes Beispiel: Die Olivenölproduktion. Dafür gab es ein gemeinschaftlich genutztes Lager und eine Ölpresse mit großem runden Mahlstein. In den Ruinen ist alles noch gut zu erkennen. Doch den Stein gibt es nicht mehr. „Ich kann mich noch gut erinnern“, sagt Mahmoud, „Anfang der 1990er Jahre kam mitten in der Nacht die israelische Armee und trat die Tür zur Mühle auf, die damals gar nicht mehr in Betrieb war.“ Der Mühlstein wurde mitgenommen. Wir fragen uns wozu? „Damit sie diese alten Gegenstände in Israel in den Städten auf den Plätzen aufstellen und sagen können ‚Seht her, wir haben hier auch eine eigene Geschichte‘“, sagt Mahmoud.
Wir stehen auf den Dächern der Ruinen und schauen in die Ferne während die Sonne untergeht. Im Westen blinken die Lichter von Tel Aviv, 40 Kilometer Luftlinie liegen zwischen Farkha und dieser großen Partystadt, in der die Brutalität der Besatzung vergessen gemacht werden soll. Mahmoud, heute 33 Jahre alt, konnte letztes Jahr zum ersten Mal mit einer Genehmigung der Besatzungsbehörden hinfahren. Davor stand er auf eben jenen Dächern und versuchte das Blitzen des Meeres in der Ferne zu erahnen. Im Norden sind, hell erleuchtet, große Siedlungen wie Ariel (mit mehr als 20.000 Besatzern/Siedlern) zu sehen, etwas weiter westlich liegt eine große Industriesiedlung. Dort arbeitet Mahmoud als Stahlarbeiter, zusammen mit hunderten anderen Palästinensern. Er ist dazu gezwungen, obwohl er die Besatzung hasst und als Kommunist dagegen ankämpft. Doch: in der Westbank gibt es nicht genügend Arbeit und die Löhne sind zu niedrig. Verstärkt wurde das noch Anfang des Jahres, als Israel begonnen hat die Zolleinnahmen der Westbank (Israel kontrolliert alle Außengrenzen der Westbank und verfügt damit über die Zolleinnahmen) nicht mehr vollständig auszubezahlen und die Autonomiebehörde daraufhin aus Protest auch die Annahme der restlichen Einnahmen verweigert hat. Seitdem sinken die Löhne, insbesondere im öffentlichen Dienst. „500 Shekel weniger im Monat erhält meine Frau, die bei einer Behörde arbeitet“, sagt Mahmoud. Wie hält man das aus, für den Feind auch noch zum Arbeiten „gezwungen“ zu werden? „Wenn ich anfange, mache ich mir Ohrstöpsel rein, arbeite den ganzen Tag ohne mit jemandem zu reden und fahre abends wieder“. Israel nutzt die prekäre Situation der palästinensischen ArbeiterInnen, die vor allem von der israelischen Besatzung erzeugt wird und winkt mit etwas besseren Löhnen in den Industriesiedlungen, deren Produkte dann völkerrechtswidrig auch im Ausland verkauft werden. Das schafft eine Abhängigkeit, die die Menschen auch vom Widerstand gegen die Besatzung abhalten soll. Denn wer renitent ist, bekommt keinen Arbeitsplatz.
Als die Sonne langsam untergeht, machen wir uns auf den Weg zurück zur Schule. Dabei kommen wir immer wieder an Wandbildern mit Hammer und Sichel sowie Che Guevara vorbei. An einer freien Wand in der Dorfmitte sprayen gerade GenossInnen des Verbands der Studierenden aus Kurdistan ein Graffiti: „Intifada – Serhildan“ steht dort auf Arabisch und Kurdisch. Sobald es fertig ist, gibt es ein Bild davon. Später am Abend gibt es von diesen GenossInnen einen längeren Vortrag zur aktuellen Situation in Rojava für das gesamte Festival. Anschließend wird über die dortige Politik diskutiert. In ihrer Verbandszeitschrift Ronahi wird es dazu einen längeren Bericht geben.
Am nächsten Tag, nach einem anstrengenden Arbeitseinsatz (Stichwort: Betonmauer), berufen wir für alle Interessierten ein Plenum ein, um über Feminismus zu diskutieren. Spannend, wie hier die unterschiedlichen Auffassungen sich gegenseitig ergänzen aber auch aufeinanderprallen. Zu Beginn der Runde berichten einige Frauen und Männer von ihren eigenen Unterdrückungserlebnissen beziehungsweise Situationen, in denen sie Frauen auf die ein oder andere Weise unterdrückt haben könnten. Ein junger Genosse aus Ramallah verteidigt, dass er nicht wolle, dass seine Schwester abends alleine in der Stadt unterwegs ist. Das sei zu gefährlich, viele komische Typen sind auf den Straßen unterwegs. Sofort kontert eine Genossin aus Jerusalem: „Dann bringt euren Schwestern bei sich zu verteidigen und euren männlichen Freunden keine Frauen anzumachen, die nachts alleine herumlaufen! Wir Frauen sind stark genug, um uns selbst zu beschützen.“
Claudia, eine Genossin der Izquierda Unida aus Spanien, spricht die unterschiedlichen Ebenen und Formen der Unterdrückung an. Klar sei jeder Palästinenser und jede Palästinenserin von der Besatzung unterdrückt und dennoch gebe es auch innerhalb der palästinensischen Gesellschaft eigene Formen von Unterdrückung und Ungleichheit, die vor allem die Frauen betreffen. Als größtes Problem werden von den TeilnehmerInnen die sexistische Kultur und alte Traditionen ausgemacht. Denn Männern werde schon von Kind an mitgegeben, dass Frauen weniger Wert. Es gehe also, neben der ökonomischen Gleichberechtigung, auch und vor allem darum, das Bewusstsein der Menschen zu ändern. Das dauere sehr lange. Imad, ein Genosse aus Bethlehem, hebt hervor, dass die gesellschaftliche Entwicklung bezüglich der Frauenbefreiung rückläufig sei und die, sowieso schon sehr geringen, Freiheiten nach und nach weiter eingeschränkt werden. Nicht die Besatzung sei primär an der Unterdrückung der Frau schuld, sondern die eigene palästinensische Gesellschaft mit ihren konservativen Einstellungen. Dem widersprechen einige wenige Genossen, die die Frauenfrage erst nach der nationalen Befreiung lösen wollen.
Eine junge Genossin spricht auch die Unterdrückung der Frauen untereinander an. Viele Frauen sorgten selbst für die Einhaltung der von Männern (oder „der Gesellschaft“) aufgestellten Regeln und so reproduziere sich diese Unterdrückung gesamtgesellschaftlich ständig. Ein komplexes Beispiel vom diesjährigen Festival: in den letzten Jahren war es uns gelungen, dass das Essen nicht nur von Frauen, sondern an ein, zwei Tagen auch von Männern gekocht wurde. Dieses Jahr passiert das nicht. Die Frauen der Kooperative des Dorfes, die das Essen zubereiten, weigerten sich. Das „Argument“: Männer könnten nicht gut genug kochen. Ein Rückschritt? Ja und nein. Einfach ist diese Frage nicht zu beantworten. Denn das gemeinsame Kochen ermöglicht den Frauen der Kooperative auch ein Zusammenkommen, einen Grund das Haus zu verlassen. Man schnipselt gemeinsam Gemüse, setzt Brühe auf und würzt Hühnerschenkel und gleichzeitig tauscht man sich aus, macht Witze und kommt in Kontakt zueinander. Zudem definieren sich Frauen (und natürlich auch Männer) über die gesellschaftlich-patriarchal ihnen zugewiesenen Rollen. Nimmt man sie ihnen jetzt, ohne auf einer größeren Ebene für mehr Befreiung zu sorgen, wird ihnen zugleich auch ein Stück Identität und Selbstverwirklichung genommen. Es ist also nicht ganz so einfach.
Dennoch einigen wir uns darauf, dass wir nächstes Jahr versuchen wollen, dass das Essen wieder auch von Männern gekocht wird, dass es auf dem Festival ein eigenes Frauenplenum gibt und ungefähr die Hälfte der ReferentInnen weiblich sein sollten. Mal sehen, ob wir es schaffen, das 2020 umzusetzen. Denn neben der Koch-Frage gibt es auch andere Elemente der Ungleichheit auf dem Festival: Männer können in kurzen Hosen und Tanktops auf den Baustellen und im Ökogarten arbeiten, während Frauen von den DorfbewohnerInnen manchmal komisch angeschaut werden, wenn sie mit kurzen Klamotten kommen. Miray, eine türkische Genossin, betont, dass der Kampf gegen die sexistische und patriarchale Kultur eine alltägliche Aufgabe von Frauen und Männern sei – nur so würde sich dauerhaft was ändern. Die Diskussion und dieser Blogbeitrag endet mit der wichtigen Anmerkung, dass auch im Westen die Befreiung der Frau noch anstehe. Also packen wir es gemeinsam an – in Palästina und Deutschland.