Auf meiner Reise im Auftrag von medico* durch den Niger treffe ich immer wieder Menschen, die mir ihre Fluchtgeschichte erzählen. Die Unterscheidung zwischen Migration und Flucht ist dabei – nicht überraschend – fließend. Hier seht ihr Sadio, dessen Erlebnisse auf der Flucht ihr nun lesen könnt.
Sadio ist Anfang 30. Er kommt aus dem Senegal. Dort war er sechs Jahre bei der senegalesischen Armee. Als er bei einer Rebellion am Bein verletzt wird, will er die Armee verlassen. Seine Familie war sowieso dagegen, dass er Soldat wird. Zu gefährlich. Doch das Militär lässt ihn nicht gehen: entweder er bleibe oder er sei hier nicht mehr sicher und müsse das Land verlassen, drohen seine früheren Offiziere. Und so macht er sich auf den Weg. Weg vom Militär, auf der Suche nach einem besseren Leben. Im Oktober 2018 fängt seine Flucht an. Von Senegal nach Mali. Von Mali nach Burkina Faso. Bei einer Straßenkontrolle der Polizei wird ihm fast sein gesamtes Erspartes abgenommen. Doch er geht weiter in den Niger. Erst in die Hauptstadt Niamey und dann nach Agadez, der Stadt in der Mitte des Nigers. Das Tor zur Wüste, die über Algerien oder Libyen ans Mittelmeer führt. Sein Ziel: Europa.
In Agadez muss er sich vor der Polizei verstecken, weil Migration in den Norden seit dem auf europäischen Druck hin verabschiedeten Gesetz 036-2015 illegal ist. Er versteckt sich in sogenannten Ghettos, die es laut Gesetz eigentlich gar nicht mehr geben dürfte in der Stadt. Ghettos sind Häuser, in denen sich MigrantInnen einmieten können und eine Matte zum Schlafen bekommen. Schlepper sagen Sadio, dass die Reise nach Italien von Agadez 650.000 CFA (etwa 1000€) koste. So macht er sich auf den Weg. Zwischen Agadez und Tripolis liegen fast 2000 Kilometer. Es sind drei PickUps mit jeweils circa 25 Personen, sie bilden eine Kolonne. Nach drei Tagen in der Wüste werden sie auf einmal von den Fahrern alleine gelassen. Warum ist unklar, wahrscheinlich hatten sie Angst in eine Militärkontrolle zu geraten. Sie sind gestrandet. Mitten im Nirgendwo. Für die etwa 75 Personen sind 180 Liter Wasser in den Wagen. Das ist nichts bei einer Hitze von mehr als 50 Grad tagsüber. Nach drei Tagen sind die Schlepper immer noch nicht zurückgekommen. Es gibt Streit in der Gruppe. Wie soll das Wasser aufgeteilt werden? Soll man sich auf den Weg machen oder warten? Ein Teil der Gruppe entscheidet sich es zu Fuß zu versuchen. Darunter ist der Neffe von Sadio. Er selbst entscheidet sich mit 23 weiteren bei den Autos zu bleiben und zu warten. Die Stunden und Tage vergehen. Bis das Militär sie entdeckt, sind fünf Leute neben ihm verdurstet. Das Wasser hat nicht ausgereicht. Als sie berichten, dass der Großteil der Gruppe zu Fuß weitergegangen ist, fährt das Militär hinaus, um sie zu suchen. Sie finden nur noch neun lebend. Am Ende haben nur 28 von 75 Menschen überlebt. Der Rest ist für immer in der Wüste verschwunden. Auch Sadios Neffe. Bis heute habe er seiner Mutter im Senegal nicht sagen können, was mit ihm passiert ist.
Die Fluchtgeschichte von Sadio geht noch weiter. Er versucht es nochmal. Schafft es nach Sabratha westlich von Tripolis an die Mittelmeerküste. Er kommt auch auf ein Boot, aber das wird nach einer Stunde Fahrt auf dem Mittelmeer von libyschen Milizen, die im Auftrag der EU und besonders Italiens handeln, abgefangen und in ein Gefängnislager gebracht. Dort sitzt er mehr als zwei Wochen ein, schafft es durch einen glücklichen Zufall zu entkommen. Er geht zurück durch die Wüste nach Agadez im Niger. Es ist mittlerweile Ende 2019. Sein Versuch einen Weg in ein besseres Leben zu finden dauert mehr als ein Jahr. Und scheitert doch am Ende. Heute arbeitet er als Whistleblower für den medico-Partner Alarm Phone Sahara, weil er eng mit den migrantischen Communities in den Ghettos vernetzt ist. Er bekommt mit, wer sich wann und wo auf den Weg macht, wer in Not in der Wüste festsitzt und Hilfe braucht – so das Alarm Phone Sahara intervenieren kann. Und er arbeitet mittlerweile als Taekwondo-Lehrer und verdient sich etwas hinzu. Ob er langfristig in Agadez bleiben will, weiß er noch nicht.
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