Farkha-Festival 2023: Klassenkampf und Identitätspolitik in Palästina

Nach bereits drei sehr intensiven Tagen mit Freiwilligenarbeit und Programm, haben die Festivalteilnehmer:innen am Mittwochvormittag (16.8.) wieder auf den fünf verschiedenen Baustellen in und um Farkha gearbeitet. Dazu gehören Aufräum- und weitere Sanierungsarbeiten an gemeinschaftlichen Plätzen im Dorf, es werden Beete für Pflanzen angelegt und Wege gepflastert. Die Arbeit in der starken Hitze wird erleichtert durch Dorfbewohner:innen, die immer wieder kühlende Getränke und Süßigkeiten vorbeibringen.

Gestärkt durch eine Pause und dem Essen, das von der Frauenkooperative im Dorf jeden Tag frisch zubereitet wird, nehmen wir an einem Vortrag des marxistischen Professors Mudar Kassis teil, der an der Birzeit-Universität bei Ramallah Philosophie und Cultural Studies lehrt. Der Vortrag beschäftigt sich vor allem mit dem Spannungsfeld von Klassenkampf und Identitätspolitik in Palästina. Kassis bezog sich auf die Geschichte Palästinas und Israels und inwiefern die ersten Kolonisierungsversuche jüdischer Menschen aus Europa die Trennungslinie zwischen ihnen und den zu der Zeit mehrheitlich dort lebenden arabischen Menschen nicht auf Ebene der Klasse, sondern auf Ebene von Identitätskonstruktionen gezogen wurde. Dies führte, so Kassis, zur Entstehung einer getrennten jüdisch(-israelischen) und einer palästinensischen Identität. Verstärkt wurde dies noch durch die Gründung des Nationalstaats Israels im Jahr 1948. Laut Kassis wurde durch die Entstehung des Nationalstaats gegenseitige Solidarität innerhalb der Arbeiter:innenklasse verunmöglicht. Die Verbindung von Zionismus und kolonialer Ausbeutung Palästinas spaltete die arbeitende Bevölkerung innerhalb der Region. Der Professor kritisierte, wie stark der Befreiungskampf Palästinas als ein Kampf zwischen Religionen und Nationen dargestellt werde. Durch die Konstruktion religiöser und nationaler Identitäten werde die eigentliche Unterdrückung der Arbeiter*innen verschleiert.

Im Anschluss kam es zu einer lebhaften Diskussion zwischen dem Referenten und der internationalen Delegation, die aus verschiedensten Organisierungen, zum Beispiel der Solidarität mit der kurdischen Befreiungsbewegung oder der migrantischen Vernetzung kommen. So wurden Fragen zur strategischen Nutzung von Identitätskonstrukten im politischen Kampf gestellt. Denn in diesem werden Betroffene oft mit einer ihnen zugeschriebenen Identität konfrontiert, aufgrund derer sie diskriminiert, marginalisiert und unterdrückt werden. Kassis Antwort: die Befreiung von Unterdrückung könne nicht gelingen, wenn man die einem aufgezwungenen Identitäten akzeptiere und annehme. Die Trennungslinie verlaufe nicht anhand konstruierter nationaler Identitäten, sondern anhand der sozio-ökonomischen Position in der Gesellschaft. Nur so könne im Falle Palästinas eine starke Einheit gegen die Besatzungsmacht innerhalb des globalen Kapitalismus aufgebaut werden.

Der darauffolgende Tag war vor allem durch Arbeiten im alten Dorfzentrum geprägt. Die rund 38 Häuser der Altstadt bilden den historischen Stadtkern von Farkha, Ursprünge dortiger Siedlungen lassen sich bis zur Bronzezeit zurückdatieren. Es wurden vor allem Wege begradigt und aufgeschüttet, Müll und große Steine entfernt und Vorbereitungen für die am selben Tag stattfindende Veranstaltung zum kulturellen Erbe Palästinas getroffen. Schon bei einer Stadtführung in den Tagen zuvor wurde den Teilnehmenden die Wichtigkeit von kulturellem und historischen Erbe im Bezug auf die palästinensische Identität deutlich gemacht. Diese Veranstaltung kann also im Kontrast zu der kritischen Perspektive auf nationale Identität von Kassis am Tag zuvor gesehen werden. Durch die Auseinandersetzung mit der Bedeutung von kulturellem Erbe innerhalb der palästinensischen Gesellschaft wurde deutlich, dass ein Bezug auf kulturelles Erbe auch identitätsstiftende Merkmale einnehmen und als Werkzeug im Kampf gegen die Besatzung eingesetzt werden kann. Denn im Angesicht der Besatzung werde die Identität der Palästinenser:innen immer wieder negiert, ihre Kultur und Geschichte versucht zu vernichten und die Besatzung somit als politisch legitim dargestellt. Umso wichtiger werden deshalb Kulturveranstaltungen gesehen, bei dem es traditionelles Essen, wie zum Beispiel Aseeda, Rashtai und Mafateet, sowie Gesang und Tänze gibt.

Es wurde sichtbar wie wichtig diese Art der Veranstaltungen für Identitätsprozesse und gesellschaftlichen Zusammenhalt sind und wie diese in Zusammenhang mit historischen Orten wie dem alten Dorfkern von Farkha stehen. Dieses Jahr beginnen dort Renovierungsarbeiten, die in einem Zeitraum von acht Jahren den historischen Dorfkern sanieren und wieder aufbauen sollen.

Dabei ist es den Bewohner:innen von Farkha wichtig, unabhängig von Geldern internationaler Institutionen und NGOs zu sein, um selber entscheiden zu können wie und mit welchen Materialien die Renovierungsarbeiten durchgeführt werden. Es sollen zwar moderne Technologien genutzt werden, jedoch spielt der Respekt vor der Natur im Kontext der Renovierungsarbeiten eine wichtige Rolle. Das erklärte Ziel dabei ist nicht nur die sozio-kulturelle und wirtschaftliche Situation der Bewohner:innen von Farkha zu verbessern, sondern auch jedem Besuchenden die Möglichkeit zu bieten mehr über die traditionelle Kultur Palästinas zu erfahren.

Am Freitag (18.8) ging es direkt nach dem Frühstück nicht wie gewohnt zur Freiwilligenarbeit, sondern gemeinsam mit allen 200 Teilnehmenden zur Altstadt, um von dort aus mit einer Demonstration zu starten. Ziel ist der neu errichtete Grill- und Freizeitplatz am Rande des Dorfes. Dieser sollte mit allen Arbeitsgruppen des Festivals umzäunt und anschließend eingeweiht werden. Vor dem Demonstrationszug fahren viele Jugendliche in gelben Verkehrswesten mit Mountainbikes voraus, denn auch ein Biketrail, der zum Freizeitplatz führt, wurde angelegt.

Die Nutzung des eigenen Landes ist umso bedeutsamer, da es von der Besatzung konfisziert werden soll. Unterwegs erzählen palästinensische Genoss:innen von Begegnungen mit Siedler:innen auf dem Landstück. Ihre Siedlungen lassen sich schon von Weitem erkennen und stechen inmitten der umliegenden palästinensischen Dörfer heraus. Bei der am nächsten gelegenen Siedlung, dem Außenposten Ar-Ras handelt es sich um große, kastenförmige Gebäude, in denen Schafe gezüchtet werden. Sie wurde erst 2020 illegal auf palästinensischem Land errichtet. Nach 40 Minuten Fußmarsch erreichen wir das Gelände. Doch das Vorhaben, die Anlage zu umzäunen, schlägt fehl: das dort gelagerte Baumaterial im Wert von 5.000 € wurde in der Nacht von Siedler:innen gestohlen. In einer Rede sprach Jamal Juma von der Kampagne „Stop the Wall“ über Einschüchterungsmanöver und Provokationsversuche der Siedler:innen, die bewusst eine Reaktion der Dorfbewohner:innen herbeiführen wollen, um damit weitere Militärgewalt und Besatzung zu legitimieren.

Als die Gruppe aufbrach, um statt der Umzäunung die letzten Arbeiten im Dorf fertigzustellen, wurde sie Zeuge einer solchen Provokation und Bedrohung: in der Ferne waren Staubwolken von heranfahrenden Fahrzeugen zu sehen. Eine Militärdrohne überflog die Gruppe, um die Situation auszukundschaften, kurze Zeit später folgten ein gepanzertes Fahrzeug mit Soldaten und dahinter Siedler. Die Soldaten positionierten sich auf dem Gelände um die Festivalteilnehmer:innen und drei mit Maschinenpistolen bewaffnete Siedler stolzierten um die Gruppe herum, machten Fotos und lachten. Wohlwissend, dass sie sich auf den Schutz des Militärs verlassen können, während die Teilnehmenden und unter ihnen vor allem die Palästinenser:innen ihrer möglichen Gewalt schutzlos ausgesetzt sind.

Mit lauten, antifaschistischen Gesängen zeigten wir jedoch, dass wir uns weder einschüchtern noch provozieren lassen und die Siedler:innen mussten sich letztendlich erfolglos zurückziehen. Vor allem die permanente Bedrohungslage für Palästinenser:innen auf ihrem Land haben die Teilnehmenden der internationalen Delegation so eindrücklich erlebt – und sie in ihrer Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung bestärkt.

Dieser Text ist von Bo, Ina & Josh, Teilnehmer:innen der internationalen Delegation. Zuerst veröffentlicht auf kommunisten.de