Das vergessene Volk der Westsahara – oder: Soziale Medien in der Wüste

Seit fast 45 Jahren leben 200.000 Flüchtlinge mitten in der Wüste Westafrikas. Opfer von Krieg und Verfolgung, im Nirgendwo zwischen Algerien, Marokko und Mauretanien. Ein Gebiet mit dem Namen Westsahara – schon mal davon gehört? Wenn nicht, dann hilft dieser Artikel zu verstehen, warum die Medienlogik dazu beiträgt, dass bestimmte Ereignisse für uns keine Realität sind.

Eine kurze Geschichte der Westsahara. Gezeichnet von Mauro Entrialgo.

Worum geht es überhaupt? Als sich Spanien 1975 aus „Spanisch-Sahara“ verabschiedete (eine der letzten Kolonien im Westen Nordafrikas), nutzten Marokko und Mauretanien die Gelegenheit und rückten mit ihren Truppen ein. Es folgte ein Guerillakrieg. Die Frente Polisario hatte sich bereits 1973 gegründet. Ziel: eine Republik der Sahrauis. 1979 war Mauretanien geschlagen. Marokko dagegen änderte nach anfänglichen Niederlagen seine Kriegsstrategie und errichtete in den 1980er Jahren eine mehr als 2700 Kilometer lange Mauer, die die Angriffe der Polisario abwehren sollte und das Land bis heute teilt.

In der europäischen Öffentlichkeit spielte dieser Krieg und die Mauer schon damals nur eine geringe Rolle. 1991 gab es einen Waffenstillstand und ein Versprechen der Vereinten Nationen: ein Referendum über die Unabhängigkeit der Westsahara. Doch 28 Jahre ist nichts passiert. Das öffentliche Bewusstsein zum Konflikt ist minimal, und die im Krieg geflohenen Sahrauis vegetieren vor sich hin (in fünf Flüchtlingslagern um die Stadt Tindouf im Westen Algeriens). Ohne jegliche Zukunftsperspektive. Marokko spielt auf Zeit und nutzt die geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen des Westens aus (Stichworte: Phosphatabbau und Fischfang), um am Status Quo nichts verändern zu müssen.

Erst vor zwei Wochen stimmte das Europäische Parlament einem Abkommen mit Marokko zu, dass EU-Fangflotten den Zugang zu den Fischgründen vor der Westsahara sichert, obwohl der Europäische Gerichtshof dies für unvereinbar mit dem Völkerrecht hält. Im Gegenzug zahlt die EU in den nächsten vier Jahren 160 Millionen Euro an Marokko (für mehr Informationen: Western Sahara Ressource Watch). Die Hilfsorganisation Medico International, eine der wenigen internationalen NGOs, die noch vor Ort arbeiten, nennt die Sahrauis „eine vernachlässigbare Menge“, die zum „Nichtstun“ verdammt und von UN-Lebensmittelrationen abhängig sei. Genau wie der Konflikt an sich sind diese Menschen von der Weltöffentlichkeit vergessen. Doch warum?

Der Konflikt zwischen Marokko und der Polisario widerspricht einer kommerziellen Medienlogik, die auf Superlative, „News“ und Personalisierung ausgerichtet ist. Journalisten müssen aus einer Vielzahl an Informationen das auswählen, was sie für interessant halten. Warum also über die Besatzung der Westsahara berichten? Die Sahrauis sind insgesamt weniger als 500.000 Menschen. Sie leben in einem Wüstengebiet, das abgelegen und für Journalisten nur schwer zu erreichen ist. Die Auseinandersetzung läuft seit fast 45 Jahren. Seit dem Waffenstillstand von 1991 kommt es zu keinerlei Gefechten mehr. Also: Keine blutigen Bilder von getöteten Menschen oder abgeschossenen Kampfflugzeugen. Nichts, was es auf die Titelseite schaffen könnte. Zudem ist Marokko USA- und Europa-Partner im Kampf gegen den Terrorismus und regionale Flüchtlingsabwehr. Dafür wird ein Auge zudrückt. Die Türkei lässt grüßen. Gleichzeitig geht von der Polisario, die ein säkulares Politikverständnis vertritt, keinerlei Gefahr für Europa aus. Das Terrorismus-Narrativ greift also nicht, auch wenn die marokkanische Seite immer wieder versucht, die Sahrauis auf diese Weise zu diskreditieren.

Medien-Workshop in der Wüste. Im Kunstatelier Motif von Mohamed Sulaiman.

Wie kann das Schweigen durchbrochen werden? Diese Frage wurde auf einem Workshop Mitte Februar im Flüchtlingslager Smara diskutiert. Schwerpunkt: Die Arbeit mit sozialen Medien. Facebook, Twitter und Co. Mit dabei: Aktivisten, Vorstandsmitglieder der Jugendorganisation der Polisario, Mitarbeiter verschiedener Ministerien der 1976 im algerischen Exil gegründeten Demokratischen Arabischen Republik Sahara, ein Journalist der Nachrichtenagentur Sahrawi Press Service und Mohamedsalem Werad, der Gründer von Sahrawi Voice.

Natürlich: Mit sozialen Medien ist das so eine Sache. Auf der einen Seite helfen sie dabei, Informationen über die aktuelle politische Lage in den besetzten Gebieten und über das Leben als Dauer-Flüchtling zu verbreiten. Andererseits gibt es immer wieder Zensur. Facebook zum Beispiel. Die Sperrung von Accounts sahrauischer Aktivistinnen. Pro Publica kam bereits 2017 zu dem Schluss, dass der Konzern gezielt Inhalte löscht, die aus umkämpften Gebieten (Israel/Palästina, Kaschmir, Westsahara) berichten. Auch bei Inhalten zur kurdischen Freiheitsbewegung, vor allem bei Veröffentlichungen, die etwas mit Abdullah Öcalan zu tun haben, kommt es immer wieder zur Löschung von Inhalten und Sperrungen, selbst dann, wenn diese nicht der nationalen Gesetzgebung des Herkunftslandes widersprechen.

Auf dem Workshop ist man sich jedoch einig, dass es keine Alternative zu diesen Plattformen gibt. Trotz aller Zensur. Nur dort könne man mit geringen (finanziellen) Mitteln eine Vielzahl von Menschen erreichen. Ein Vorschlag: Die Öffentlichkeitsarbeit der Sahrauis an die Logik westlicher Medien anpassen. Doch wie konkret soll das funktionieren? Den Krieg wieder aufnehmen, nur um Berichterstattung zu generieren? In einer Aktion des zivilen Ungehorsams auf die tausende Kilometer lange Mauer zulaufen, trotz Minenfeld, trotz Scharfschützen? Sind es ein paar Artikel wert, Verletzungen oder gar den Tod zu riskieren?

Mohamedsalem Werad ist skeptisch: „Wir sehen doch an Palästina, dass es viel Berichterstattung geben kann und sich trotzdem nichts ändert. Wir dürfen den Einfluss der Medien auch nicht überschätzen.“ Zuerst gelte es, die eigene Medienarbeit zu professionalisieren. Also: täglich Nachrichten in den sozialen Medien veröffentlichen, die Webseiten aktuell halten (nicht so wie hier), Kontakte zu Journalisten aufbauen und ein Gegennarrativ aufbauen, dass die „Propaganda“ Marokkos offenlege. Warum nicht auch die eigenen Errungenschaften im Westen noch mehr promoten?

Bei dem relativ fortschrittlichen Frauenbild der sahrauischen Gesellschaft klappt das bereits, wie Elena Fiddian-Qasmiyeh (S. 2, 2014) argumentiert. Dennoch ist die Stimmung auf dem Workshop gedämpft. Erst wenn sich die westliche Nordafrika-Politik ändere, bekäme auch die völkerrechtswidrige Besatzung der Westsahara mehr mediale Aufmerksamkeit. Dahinter steht die Annahme, dass in den Medien vor allem die Themen eine Rolle spielen, die von den Eliten diskutiert werden. Doch ganz ohne Hoffnungen sind die Sahrauis nicht: „Marokko ist nicht Israel“, sagt der Journalist des Sahrawi Presse Service. Die westliche Haltung zu Marokko lasse sich einfacher ändern als gegenüber Israel. Und dann würden die Medien das Thema auch aufgreifen.

Mehr Informationen zur aktuellen Situation in der Westsahara hier.

Literatur
Elena Fiddian-Qasmiyeh: The Ideal Refugees: Gender, Islam, and the Sahrawi Politics of Survival.  Syracus: Syracuse Universtiy Press 2014.

Bilder
Comicfotographien aus „Der Westsahara Konflikt in weniger als 3000 Wörtern“ von Mauro Entrialgo
Workshopaufnahme von Johannes Jonic

Da dieser Beitrag ursprünglich auf dem Blog Medienrealität veröffentlicht wurde, empfiehlt sich folgende Zitierweise:
Kerem Schamberger: Das vergessene Volk der Westsahara – oder: Soziale Medien in der Wüste. In: Michael Meyen (Hrsg.): Medienrealität 2019. https://medienblog.hypotheses.org/5480 (Datum des Zugriffs)